Meinung
Deutsche Kriegstreiber drehen durch: MDR-Kommentar fordert Nein zu Panzerlieferungen
Die im fiktiven Beispiel oben genannten Länder ignorierten ebenfalls die Hintergründe der Handlungen der USA und der Sowjetunion. Als weiterführender Gedanke dieser fiktiven Situation könnte man zum Beispiel annehmen, dass es Kräfte gab, die ein Interesse daran hatten, dass Deutschland wieder aus der Asche aufersteht. Womöglich ging es auch gar nicht um Deutschland, sondern um die Schwächung der USA und der UdSSR. Vielleicht spielten wirtschaftliche Interessen eine Rolle, vielleicht auch imperialer Größenwahn der Länder, die Deutschland mit Waffen unterstützen wollten. Sogar persönliche oder pathologische Motive sind denkbar.
Meinungsbildung ohne Schaum vorm Mund
Kommen wir zur heutigen bedrohlichen Lage zurück. Wir befinden uns in einem Klima der Angst auf der einen und des Hasses auf der anderen Seite. Die mit Abstand meisten Menschen im Land wollen keinen heißen Krieg, fürchten sich vor einem Atomkrieg, also dem Dritten Weltkrieg. Die Fraktion der anderen, derjenigen, die den Konflikt anfeuern und ganz offen aussprechen, dass sie “Russland ruinieren”, vielleicht sogar auslöschen wollen, bilden eine breite Meinungsfront, unterstützt durch willfährige Medien, die von Tag zu Tag lauter werden mit ihren Rufen nach Krieg, Vergeltung, Panzerlieferungen und Regime Change.
Bereits seit Februar wird uns nur ein Ausschnitt der Lage präsentiert. Die große Erzählung wurde auf die kleinste Erklärung reduziert. Wir sahen gewissermaßen die Frau an der Wand (die Ukraine) und den Mann, der sie bedrohte (Russland). Nun gibt es sowohl für die Szene zwischen dem Mann und der Frau als auch für den Konflikt zwischen der Ukraine zahlreiche Erklärungen und Deutungen.
Womöglich habe ich Ihnen oben einfach die Geschichte vom Mann und der Frau erzählt, aber alles war ganz anders. Vielleicht habe ich Ihnen gesagt, was der Mann abends in den Nachrichten erfuhr, doch es war gar nicht so. Meine Geschichte mit dem Mann und der Frau hat sich zwar so abgespielt, wie ich sie beschrieben habe, die Auflösung am Abend vor dem Fernseher, die habe ich mir aber ausgedacht. In Wahrheit hat der Mann tatsächlich die Frau gerettet, der andere Mann war auch nicht gehörlos, sondern so bedrohlich, dass ein aggressiver Blick in die Augen des Mannes genügte, um ihn einzuschüchtern. Vielleicht konnte der Täter nur deshalb den Tatort unbehelligt verlassen, weil der andere Mann einfach Angst hatte. Oder vielleicht war es auch umgekehrt. Die Frau griff den Mann an, er drückte sie gar nicht gegen die Wand, Sie standen aber in einem ungünstigen Winkel, um die Szene richtig einordnen zu können. Und so weiter und so fort.
Der Punkt ist, dass wir eine Situation nur beurteilen können (wenn wir Glück haben), wenn wir so viele Informationen wie möglich haben. Und dazu gehört selbstverständlich auch der Lauf der Geschichte, der letztlich zum Konflikt beigetragen hat. Man kann zwar behaupten, dass das Verwerfliche einer Tat nicht weniger verwerflich wird, wenn wir die Entwicklung zuvor kennen. Gut möglich, dass Sie die Tat auch dann so bewerten, wie Sie es vorher taten. Ebenso gut möglich ist es aber, dass Sie mit vermehrtem Wissen zu anderen Schlüssen kommen als ohne diese Informationen. Vielleicht verurteilen Sie die Tat weiterhin, sehen aber die Schuldfrage differenzierter, kommen zum Schluss, dass der vermeintliche Täter zuvor ein Opfer gewesen ist. Vielleicht beginnen Sie zu verstehen, warum er gehandelt hat, wie er gehandelt hat. Und womöglich stecken Sie in der Folge in einer Gewissensklemme, weil Sie nicht mehr kategorisch einordnen können, wer was getan hat, warum er es getan hat und wie es zu vermeiden gewesen wäre. Alles beginnt sich zu drehen, Sie verstehen immer weniger und wollen doch wissen, wie alles zusammenhängt. Also steigen Sie tiefer ein in das Thema.
Sie fördern Fakten zutage, mit denen Sie niemals gerechnet hätten, beleuchten nach und nach Ecken, die zuvor vollständig im Dunkeln gelegen haben. Feindbilder lösen sich auf, Heldenverehrungen entpuppen sich als gewaltiger Irrtum. Irgendwann neigen Sie dazu, die Position zu wechseln und sich auf die Seite des vermeintlich Schuldigen zu stellen. Sie halten das eine Weile durch, wehren sich aber dagegen und leuchten weiter die Ecken aus. Zum Schluss stellen Sie fest, dass beide Seiten Interessen haben, die sie mit allen Mitteln verteidigen wollen. Ihr inneres Pendel schlägt erneut aus und bewegt sich auf eine neutrale Mitte zu. Die Schuldfrage wird in diesem Moment unwichtiger, sie rückt aus dem Mittelpunkt der Geschichte heraus, und Sie stellen fest, dass sie nicht das beste Mittel ist, um das Problem zu lösen. Mehr noch: Sie bemerken, dass es gerade diese Schuldfrage ist, die eine Lösung unmöglich werden lässt.
Es ist gutgegangen und wird böse enden
In der oben beschriebenen Fiktion haben Vernunft und Diplomatie sich letztlich durchgesetzt. Mir gefällt einfach die Vorstellung eines Happy End, daher habe ich entschieden, es so kommen zu lassen. Da es meine Fiktion ist, ist es auch mein Ende der Geschichte, und wer mir vorwerfen will, ich sei romantisch oder kitschig, der möge das tun.
Weniger romantisch betrachte ich die reale und akute Situation. Der Bevölkerung wird der hier in einigen Varianten beschriebene Ausschnitt präsentiert, ein größerer Blick wird aktiv unterbunden. Damit lassen sich auch die zahlreichen Diffamierungen von Menschen erklären, die nicht auf den rasenden Zug des Krieges aufspringen wollen. Sie sind es nämlich, die genau das wollen: einen genaueren Blick auf die Fakten einerseits und eine diplomatische Herangehensweise andererseits.
Doch so funktioniert die Erzählung nicht, die uns eine isolierte Situation präsentiert, die – so isoliert betrachtet – funktionieren mag, aber komplett in sich zusammenbricht, wenn man den Blick weitet. Wir befinden uns in einem Kampf, der nicht öffentlich geführt wird, sondern sich um die Gedanken und Überzeugungen, um die Emotionen und Ängste dreht, und dieser Kampf wird erbarmungslos geführt, mit allen Waffen, die sich anbieten.
Tatsächlich wird ein Krieg gegen uns geführt, gegen unsere möglichen Versuche, statt eines eindeutigen Bildes der Lage und des “Feindes” eine differenzierte Perspektive zu entwickeln. Wir sind im Nachteil, denn unsere Widersacher wissen, dass Sie die besseren Waffen haben. Sie bieten uns das Simple, Einfache an, sie geben uns Erklärungen und Lösungen, die uns nicht überanstrengen, zumindest nicht mental und emotional. Und wie es aussieht, verlieren wir diese alles entscheidende Schlacht gerade, um die Rhetorik zu gebrauchen, an die wir uns schon gewöhnt haben. Denn wir weigern uns zunehmend, aus der isolierten Betrachtungsweise auszubrechen. Einige sind an dem Punkt, an dem die von außen beeinflusste Manipulation nicht mehr notwendig ist. Einige von uns haben sich selbst in diese gedankliche Isolation versetzt. Aus Bequemlichkeit, aus Überzeugung, aus Dummheit oder weil sie nie gelernt haben, komplexe Sachverhalte zu analysieren.
Meinung
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Wir müssen verstehen: Die Situation ist brandgefährlich. Wir steuern auf einen Krieg zu, der nicht zu kontrollieren sein wird. Daher ist es umso wichtiger, sich intensiv mit dem Ukraine-Konflikt zu beschäftigen. Man kann nicht einfach “Ja, richtig!” brüllen, ohne sich zuvor über die Hintergründe informiert zu haben, und zwar von allen erdenklichen Seiten. Wir sprechen ja nicht darüber, ob man lieber Rotwein oder Weißwein trinkt, sondern über die Frage nach Krieg und Frieden. Das ist nicht trivial, und die eigene Haltung dazu ist vor allem eine Entscheidung, die man nicht aufgrund von oberflächlichen und interessengesteuerten Argumenten treffen sollte.
Cui bono – oft bemüht und doch viel zu sehr in den Hintergrund gerückt oder als verschwörungstheoretisches Geschwätz abqualifiziert. Doch wer etwas verstehen will, muss nicht nur die Vorgeschichte kennen, um sich ein umfassendes Bild zu machen. Er muss sich immer auch die Frage stellen, wer etwas von einer Handlung hat, wo seine Vorteile liegen könnten. Im Falle der Ukraine kann man die Fragestellung auch variieren und sich fragen, wem etwas daran liegt, ein Land vor einem vermeintlichen Aggressor zu schützen. Die Ukraine war dem Westen viele Jahre lang egal, die wirtschaftlich desaströse Lage des Landes ist auch deshalb entstanden, weil der Westen nichts unternommen hat, um der Ukraine auf die Beine zu helfen. Offenbar waren dafür kein Geld und kein Interesse vorhanden.
Woher das plötzliche Interesse kommt, Milliarden in ein Land zu investieren, das jahrelang am langen Arm in wirtschaftlicher Not gehalten wurde, ist eine Frage, die man sich einfach stellen muss, will man die Motive, Hintergründe und Interessen verstehen. Auf diese Hintergründe bin ich in zahlreichen Artikeln, Interviews und Podcasts eingegangen, daher wiederhole ich das an dieser Stelle nicht.
Ich möchte aber abschließend die Leser ermuntern, die Frage nach den hier beschriebenen Gründen für die Haltung des Westens weiterzureichen. An Freunde, Kollegen, Familienmitglieder. Ich muss Sie zwar warnen, das wird kein Kindergeburtstag, denn alle in diesem Artikel formulierten Fragen und Thesen, Theorien und Geschichten taugen nicht für einen geselligen Abend bei Rotwein und Käse.
Aber wissen Sie, niemand hat gesagt, es wäre einfach.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Moderator und Mitherausgeber des Blogs “ neulandrebellen “.
Quelle