Quelle: www.globallookpress.com © ACHILLE ABBOUD via www.imago-ima Symbolbild
Von Dagmar Henn
Nun ist der Text des Gutachtens veröffentlicht, das nach Ansicht vieler Nicht-AfD-Bundestagsabgeordneten eine ausreichende Grundlage für ein Verbot der Partei darstellen soll. Aber dieses Gutachten kollidiert, wie kaum anders zu erwarten, hart mit der Realität. Mehr noch, es erweist sich vor dem Hintergrund der tatsächlichen Politik des vergangenen Jahrzehnts schon in der Beschreibung der Prämissen als absurd.
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Das beginnt im Grunde mit der Art und Weise, wie die Informationen gesammelt wurden, auf denen die Bewertung beruht. Denn man bewegt sich hier in einer eigenartigen Umgebung, die mit Informationen nicht so umgeht, wie man es vernünftigerweise andernorts gewohnt ist. Es wird ausführlich dargestellt, warum im Grunde nicht nur jede Äußerung aus der Partei, sondern auch solche aus ihrem Umfeld ihr zugeschrieben werden können ‒ unter Missachtung der Kriterien, die normalerweise an die Bewertung von Aussagen anzulegen sind: wann, wo und in welchem Zusammenhang sie erfolgt sind, an welches Zielpublikum sie sich richteten, welche Verbreitung sie erreichten, welche Absichten damit verfolgt wurden, und zuletzt auch noch ‒ welche Wirksamkeit im Sinne konkreten Handelns sie entfaltet hat.
Das ist eine Menge Holz, für jeden einzelnen Satz, weshalb man sich diese Mühen auch schenkt und im Grunde alles verwertet, als könne man es zusammenhangslos aus einem Zettelkasten ziehen. Ginge es um Sozialforschung, bestünde einer der Einwände darin, dass die Gesamtzahl der Zitierten, insgesamt 302 Personen, bezogen auf eine Partei, die zum Zeitpunkt, an dem die Sammlung endete, im Februar 2021, etwa 30.000 Mitglieder hatte. Das ist eine Stichprobe von einem Prozent, allerdings keine Zufallsstichprobe, sprich, in wissenschaftlichen Zusammenhängen würde das jedem, der das vorbringt, als nicht repräsentativ um die Ohren gehauen. Selbst eine Bewertung unter politologischen Gesichtspunkten würde voraussetzen, dass man das reale Wirken auf unterschiedlichsten Ebenen betrachtet, also nicht nur das Parteiprogramm und verschiedene Äußerungen, sondern auch die gestellten Anträge und Anfragen, oder örtliche Kampagnen.
Was das Ganze besonders fragwürdig macht, ist jedoch, dass angesichts der realen Politik der letzten Jahre der Grundansatz, in einer Partei fleißig Zitate zu sammeln, um daraus ihr Verhältnis zum Grundgesetz abzuleiten, in einer Reihe weiterer Parteien zu einem ähnlichen Ergebnis kommen müsste, sofern man nur die Aussagen, zum Beispiel zu “Ungeimpften”, auswertet. Ein kleines Zitat hierzu aus der Einleitung des Gutachtens:
Meinung Wer hat hier keinen Respekt vor der Demokratie?
“Politische Forderungen und sonstige Meinungsäußerungen können eine handlungsorientierte Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung darstellen, wenn der Erlass von Gesetzen oder die Ergreifung von behördlichen Maßnahmen gefordert werden, die gegen einen Grundsatz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstoßen, also z. B. den Menschenwürdegehalt eines Grundrechts verletzen.”
Wir reden in diesem Zusammenhang nicht von Forderungen, wir reden von Umsetzungen. Der “Menschenwürdegehalt eines Grundrechts” wurde millionenfach verletzt. Allerdings ist da nicht nur die Richtung der Handlungen etwas, das mit der gleichen Begründung, die gegen die AfD angeführt wird, eine Verfassungswidrigkeit der die Corona-Maßnahmen beschließenden Parteien begründen könnte, sondern mehr noch, wenn man der Argumentation der Gutachter folgt (die in sich ebenfalls zu kritisieren ist, aber dazu später), weil “allein das Überleben des Volkes als Organismus zum Ziel des politischen Handelns gemacht wird, hinter dem die Interessen des Einzelnen vollständig zurückzutreten haben” . Nicht im Sinne einer eventuell aufzuspürenden politischen Position, sondern in Gestalt einer konkreten politischen Praxis.
Schön ist vor diesem Hintergrund auch diese Passage:
“Verunglimpfungen in Form von tatsachenwidrigen pauschalen Verdächtigungen und Unterstellungen würdigen dabei Menschengruppen in ihrer Gesamtheit ab und rufen Ablehnung hervor. Solche Agitationen schüren Ängste, Unsicherheiten und Vorurteile und sind damit letztlich auch geeignet, den Boden für unfriedliche Verhaltensweisen gegenüber einzelnen Bevölkerungsgruppen zu bereiten.”
Blinddarm-Bosetti? Nur so als kleines Beispiel für die Herabwürdigung von Menschengruppen in ihrer Gesamtheit. Nicht zu vergessen, dass in diesem Zusammenhang die “unfriedlichen Verhaltensweisen gegenüber einzelnen Bevölkerungsgruppen” nicht im privaten Raum endeten, sondern als staatlicher Auftrag exekutiert wurden. Dass nun die begeisterten Anhänger der “Brandmauer”, die in den letzten Tagen die deutschen Straßen zierten, weitgehend identisch sind mit jenen, die sich besonders widerspruchslos noch der menschenfeindlichsten Maßnahme unterordneten, verleiht dem Ganzen eine besondere Würze.
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Diese konkrete politische Geschichte der letzten Jahre ist aber der Vergleichsmaßstab, mit dem gemessen werden müsste. Selbst im relativ abstrakten juristischen Raum delegitimiert sich eine Bewertung, die die Verbindung zur Wirklichkeit vollständig vermissen lässt.
Was jedoch nicht nur in Bezug auf Fragen der Menschenwürde und der Grundrechte der Fall ist. Bei der Frage des Verhältnisses von Staatsvolk und Nation wird es geradezu extrem. Beginnend mit diesem Satz:
“Durch das Lob des Patriotismus, der Liebe zum Heimatland und des Zusammengehörigkeitsgefühls in der sozialen Gemeinschaft wird zwar die Menschenwürde nicht in Frage gestellt.”
Das ist ein Moment subtiler Bösartigkeit, der sich als Gnade tarnt. Denn dieses “zwar” bedeutet im Kern eben “gerade eben noch nicht”, was impliziert, dass der nächste Schritt, eben die Infragestellung der Menschenwürde, in diesen drei Begriffen schon angelegt sei. Es ist durchaus überraschend, wie tief sich antideutsche Vorstellungen inzwischen ins staatliche System eingegraben haben (man verzeihe die Länge des Zitats):
“Auch Vorstellungen, die in diesem Sinne den Erhalt des Volkes in seinem ethnischen Bestand fordern und ethnische ‘Fremde’ nach Möglichkeit ausschließen, verstoßen gegen die Garantie der Menschenwürde, da ein dergestalt völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff eine Ausrichtung des Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrechts an ethnischen Kriterien impliziert, wonach bestimmte Menschen qua Geburt und ihrer Natur nach aus dem Volk ausgeschlossen wären. Ein solcher Volksbegriff stellt die Subjektivität des Individuums und den aus der Menschenwürde folgenden Achtungsanspruch des Einzelnen in Frage und führt überdies zu einer Verweigerung elementarer Rechtsgleichheit für all jene, die nicht der ethnisch definierten ‘Volksgemeinschaft’ angehören.”
Interessant ist, dass in diesem Absatz die Frage des Staatsgebiets nicht einmal auftaucht. Das ist ein von Juristen verfasster Text, also ist das Fehlen dieser Beschränkung durchaus ernst zu nehmen. Wenn man diesen Absatz aber wörtlich liest, besagt er, dass im Grunde die Staatsangehörigkeit eines jeden Staates etwas ist, auf das jede beliebige Person Anspruch erheben können müsste, und zwar selbst, wenn das Kriterium der physischen Anwesenheit nicht erfüllt ist. Denn auch eine Regelung nach dem Ius soli, die jedem die Staatsbürgerschaft zuspricht, der im jeweiligen Land geboren ist, schließt “bestimmte Menschen qua Geburt und ihrer Natur nach aus dem Volk aus”.
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Hier reden wir vom Gegenbild, nach dem die Aussagen der AfD bewertet werden, von der Darstellung des gedacht Guten und Richtigen jenes Personenkreises, der dieses Gutachten verfasste, von deren Sicht auf das Grundgesetz. Und das, was hier als positives Bild gezeichnet wird, ist ganz und gar nicht verfassungstreu, weil der Begriff des Staatsvolks an sich aufgehoben wird.
Was wiederum auf ganz andere Art mit der aktuellen politischen Rhetorik kollidiert. Schließlich ist derzeit, tagein, tagaus, von “Kriegstüchtigkeit” die Rede, die CDU hat tatsächlich die Wiedereinführung der Wehrpflicht im Programm, und ständig schwirrt dieses “wir” durch die Luft, das irgendwelche “Werte” oder “die Freiheit” verteidigen müsse, spätestens dann, wenn die Ukrainer aufgebraucht sind.
Aber wie kann der Anspruch eines Staates auf einen Dienst erhoben werden, der der Definition nach ein Zurücktreten der Interessen des Einzelnen erfordert, in der extremsten denkbaren Form, nämlich der Preisgabe des eigenen Lebens, wenn dieser Staat selbst ein Ergebnis absoluter Beliebigkeit ist? Wären dann all jene, denen ein pauschaler Anspruch auf die Staatsbürgerschaft aus dem “aus der Menschenwürde folgenden Achtungsanspruch des Einzelnen” zugesprochen wird, gleichermaßen verpflichtbar, und worin besteht denn das, was da verteidigt werden soll, konkret?
Die Frage ist nicht so banal, wie sie manchen vielleicht erscheint. Interessanterweise war das zentrale Argument im KPD-Verbotsverfahren das Vorhandensein eines Sozialstaats, was zwar zum einen dazu führte, dass ausgerechnet dieses, mit dem Ziel der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik gefällte Urteil die Grundlage vieler sozialrechtlicher Entscheidungen lieferte, auf der anderen Seite aber im Grunde auch eine umgekehrte Deutung ermöglicht, sobald eben diese Anforderung eines Sozialstaats nicht mehr erfüllt ist. Was übrigens allerspätestens mit den angedrohten fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Rüstung der Fall ist.
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Diesen absurden Zusammenprall kann man vielleicht den Verfassern in ihrem juristischen Elfenbeinturm nur begrenzt vorwerfen, aber unbeschränkt jenen, die zuletzt im Bundestag mit Begeisterung eben dieses Gutachten genutzt haben, um ein Verbot der AfD zu fordern. Noch völlig ohne Betrachtung der konkret vorgetragenen Zitate genügt die Einleitung, genügt die Darstellung des vermeintlich Verfassungskonformen, um zu erkennen, dass eine derartige Bewertung vor dem Hintergrund der realen Ereignisse wie auch dem der eigenen Verfassungsdeutung der Bewerter zu keinem vernünftigen Ergebnis führen kann. Im Gegenteil.
Wenn das, was als Maßstab der Verfassungswidrigkeit gesetzt wird, nicht opportunistisch mit dem Ziel, unliebsame Konkurrenz zu beseitigen, sondern konsequent an alle gleichermaßen angelegt würde, bliebe so gut wie nichts mehr übrig. Wirklich erstaunlich ist vor allem, wie viele Abgeordnete des deutschen Parlaments imstande waren, diese Einleitung zu lesen, ohne ihre eigenen Verfehlungen auch nur im Ansatz wahrzunehmen. Der Instinkt, nicht ausgerechnet in der Kristallglassammlung mit Steinen zu werfen, scheint jedenfalls völlig abzugehen.
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