© OECD, PISA-2022-Datenbank, Tabelle I.B1.5.4, I.B1.5.5 und I.B1.5.6.
Von Dagmar Henn
Vor über zwanzig Jahren, als die erste PISA-Studie veröffentlicht wurde, gab es über längere Zeit hinweg eine große Bildungsdebatte in Deutschland. Zum ersten Mal, seit die Reformbemühungen der 1970er in der Bundesrepublik zu großen Teilen im Sande verlaufen waren, beschäftigte sich die Politik wieder mit der Frage der Gerechtigkeit beim Zugang zu Bildung, denn das war das alles überragende Ergebnis dieser Studie. In Deutschland hing der Lernerfolg überdurchschnittlich stark vom Bildungsstand und vom Einkommen der Eltern ab.
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Das ist im Grunde nicht überraschend, da das Schulsystem mit seinen drei Hauptvarianten Hauptschule, Realschule und Gymnasium schon zu Zeiten des deutschen Kaiserreichs dazu diente, den sozialen Status der Eltern an die Kinder zu vererben. Tatsächlich ist das deutsche System ähnlich sozial sauber geteilt wie das britische, nur mit dem – damals zumindest noch gegebenen – Unterschied, dass die Schulen für die “besseren” Kinder ebenso öffentlich finanziert sind, wie diejenigen für das gemeine Volk, und nicht privat betrieben werden, wie in Großbritannien und den USA.
Neben der sozialen Herkunft zeigte sich noch ein weiterer Faktor, der die Resultate deutlich beeinflusste. Die Ergebnisse von Jugendlichen mit Migrationshintergrund wichen deutlich nach unten ab. Das war wohlgemerkt 2002, damals lag der Anteil in den Klassen deutlich niedriger.
Aber es wurde, wie oft in Deutschland, viel geredet, aber wenig getan. Sicher, es gab dann einen Versuch, genau einen in Hamburg, eine längere gemeinsame Schulzeit einzuführen. Dieser Versuch scheiterte aber in einem Volksentscheid. Was nicht wundern muss – auch die Wahlbeteiligung unterschied sich sehr nach Einkommen, und warum sollte die Gruppe der Eltern, deren Kinder von dieser Selektivität profitierten, gegen die eigenen Interessen stimmen? Interessant war damals, dass sich sämtliche Industrievertreter für die längere gemeinsame Schulzeit ausgesprochen haben, weil sie sich besser qualifizierte Auszubildende erhofften, aber sich die privaten Interessen der Mittelschichteltern durchsetzten.
Es ist eines der deutschen Probleme, dass die Zahl der Berufe, in denen man tatsächlich beispielsweise ohne Mathematik auskommt, mit der technischen Entwicklung immer weiter zurückgeht. Auch in handwerklichen Tätigkeiten wird oft mit programmierbaren Maschinen gearbeitet, und für eine selbstständige Existenz benötigt man dazu noch eine beträchtliche Ausdauer im Umgang mit schwer verständlichen Verordnungen (oder solchen Späßen wie den Regeln für europaweite Ausschreibungen). Ungelernte Arbeit in Fabriken ist mittlerweile rar. Was bleibt, sind dann die sensationell schlecht bezahlten Tätigkeiten in den Dienstleistungsbranchen.
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Der einzige schulische Bereich, der sich tatsächlich verändert hat, sind die Berufsschulen. Die arbeiten aber unter gänzlich anderen Vorgaben als das gesamte restliche Bildungssystem – sie sollen schließlich jeden Schüler, der ihnen geliefert wird, erfolgreich zum Abschluss bringen und nicht auf dem Weg dorthin möglichst viele verlieren. Man könnte das auch so formulieren: Mit dem Geld, das Unternehmen in die Ausbildung ihrer Lehrlinge stecken, wird weitaus vorsichtiger umgegangen als mit dem Geld, das in die allgemeine Schulbildung gesteckt wird. Bei letzterem wird nämlich nach wie vor nicht nur hingenommen, sondern geradezu gefördert, dass es in vielen Fällen vergeudet ist.
Nun, über zwanzig Jahre später liegen die deutschen Ergebnisse noch einmal unter jenen der ersten Studie, und der einzige Faktor, der dieses Resultat ein wenig aufhübscht, ist die Tatsache, dass der Bildungsstand in allen teilnehmenden OECD-Ländern gesunken ist. Nach Angaben der Durchführenden lag das nicht oder zumindest nur teilweise an der Unterbrechung, die die Coronamaßnahmen in vielen Ländern auslösten. Sie schreiben deutlich, dass der Trend zur Verschlechterung sich vielerorts bereits in der vorangegangenen Studie 2018 gezeigt habe.
Ja, auch der damalige europäische Spitzenreiter Finnland hat nachgelassen. Für die bundesdeutschen Politiker bestimmt Balsam auf ihre Seelen; schließlich war es geradezu hinterhältig, dass die Finnen so gut abschnitten, hatten sie doch ihr Bildungssystem gerade von jenem abgekupfert, das man in der Bundesrepublik so gründlich wie möglich vergessen machen will – dem der DDR nämlich. Das wirkte ein klein wenig wie die minimale Rache jener wütenden Bildungsdebatte der bundesdeutschen 1970er, in der die angestrebte Umstellung auf eine gemeinsame Schule bis zur zehnten Klasse zum Sozialismus erklärt und damit in Bausch und Bogen verdammt wurde.
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Wo wir gerade bei Kränkungen sind: Österreich liegt wieder einmal vor Deutschland – was, da sich das Schulsystem schließlich nicht unterscheidet, vermutlich am ehesten die Tatsache widerspiegelt, dass die Verheerungen neoliberaler Politik in der Gesellschaft nicht ganz so massiv sind wie in Deutschland. In manchen Bereichen, in der Wohnungsfrage und bei der Rentenhöhe, wirkt der kleine Nachbar aus deutscher Sicht geradezu paradiesisch.
Wird diese neue Studie Auswirkungen auf die deutsche Politik haben? Das ist inzwischen noch weit unwahrscheinlicher als im Jahr 2002. Das Bildungsbürgertum, so man es so nennen kann, ist inzwischen mit ganz anderen Dingen beschäftigt und im Übrigen ganz und gar nicht mehr daran interessiert, gerechtere Verhältnisse zu schaffen. Schon der Hamburger Volksentscheid zeigte, dass die Schalter nicht mehr auf die Erwartung einer besseren Zukunft gestellt sind, sondern darauf, den Abstand nach unten mit allen Mitteln zu verteidigen.
Das allerdings dürfte geradezu toxisch werden. Deutschland liegt in der Studie, die den Bildungsstand von 15-Jährigen abfragt, mit einem Migrationsanteil von 25,8 Prozent noch vor den Vereinigten Staaten mit 23,7 Prozent, dabei wird in dieser Studie der Migrationshintergrund anders bestimmt als in der deutschen Statistik. Es zählen nämlich nur jene Kinder, deren beide Eltern außerhalb Deutschlands geboren wurden, in der deutschen Statistik gilt das bereits bei einem Elternteil.
Diese 25,8 Prozent sind allerdings nur das Vorspiel. Zum Zeitpunkt der nächsten Studie wird er sich deutlich weiter erhöht haben. Und im Gegensatz zu den klassischen Einwanderungsländern, wie Australien oder den Vereinigten Staaten, hat sich das Bildungssystem eben nicht an diese Tatsache angepasst.
Das ist im deutschen System auch besonders schwer. Schließlich ist Sprachkompetenz ein hervorragender Sozialfilter, und genau zu diesem Zweck wird sie in der Auslesephase beim Übergang aus der Grundschule auch eingesetzt. Solange es die Aufgabe der Lehrer bleibt, die Kinder in jene für die Gymnasien, jene für die Realschulen und den Rest zu teilen, steht genau diese Funktion der Profession im Wege, möglichst vielen eine möglichst gute Sprachkompetenz zu vermitteln.
Meinung
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Ganz zu schweigen von dem alten Drama, dass die wenigsten Lehrer überhaupt in der Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache ausgebildet sind. Das ist noch ein Punkt, der schon seit zwanzig Jahren in der Debatte ist, aber bisher zu keiner Veränderung geführt hat. Vor über zehn Jahren hatte ich einmal überprüft, wie viele Lehrer in Bayern Kenntnisse in diesem Bereich mittels Weiterbildung erwerben könnten. Das Ergebnis waren ganze 24 Lehrkräfte für das gesamte Bundesland. Pro Jahr.
Das ist aber noch das Resultat unter günstigen Bedingungen. Inzwischen fehlen in jedem Bundesland Lehrer. Intelligenterweise gibt es nach wie vor einen Numerus Clausus für ein Lehramtsstudium, am anderen Ende dafür aber nur noch selten eine Verbeamtung. Wenn man gezielt daran arbeiten will, einen Mangel zu erzeugen, ist das so der richtige Weg.
Berliner Schulen haben im Schnitt inzwischen ein Drittel Quereinsteiger, und manche Schulen haben gar keine “richtigen” Lehrer mehr, aber alle haben davon zu wenig. Ergibt es Sinn, bei Lehrermangel den Zugang zum Studium und später zum Beruf einzuschränken? Nein, ergibt es nicht. Aber in Deutschland ist man gerne besonders langsam darin, zwei und zwei zusammenzuzählen. Die Klagen über fehlendes Pflegepersonal waren auch schon jahrelang zu hören, ehe man auf die überraschende Idee kam, die Ausbildung endlich nicht mehr mit Schulgeld zu belasten.
Übrigens ist Migration nicht gleich Migration. Das kann man sehen, wenn man betrachtet, wie sich die Ergebnisse bei der Korrektur um den sozialen Status verändern. In der Schweiz beispielsweise sind die Ergebnisse der Einwanderer besser als die Ergebnisse der Einheimischen; das ist aber keine Armutsmigration. Ähnlich verhält es sich auf Zypern. In Deutschland erfolgt die Zuwanderung vor allem aus armen Ländern mit schlechten Bildungssystemen. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund hat sich seit der PISA-Studie 2012 verdoppelt, und unter diesen ist der Anteil derjenigen, die zu Hause kein Deutsch sprechen, ebenfalls massiv gestiegen.
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Wenn man die weitere Entwicklung im Blick hat, müsste man sich eigentlich sofort bemühen, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Aber wenn eine massive Zuwanderung nicht einmal zu dem Schluss führt, dass Menschen Wohnungen benötigen, und diese Wohnungen gebaut werden müssen, warum sollte dann die Wahrnehmung, dass gerade ein großer Teil der Kinder im deutschen Bildungssystem auf das Abstellgleis gelenkt wird, zu irgendeiner Reaktion führen? Auf der Liste der wichtigen Probleme steht die Bildung für den Nachwuchs nun einmal ziemlich weit unten – weit oben stehen Krieg, Rüstung und “Klimaschutz”.
Es ist im Grunde egal, ob man diese Kinder, die in den Grundschulen inzwischen die Hälfte der Schüler stellen, ignoriert, weil sie Migranten oder weil sie arm sind. Augenblicklich sind es 30 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland, die die minimale mathematische, und 25 Prozent, die die minimale Lesekompetenz nicht erreichen. Daran ändert sich auch im späteren Leben wenig, denn eine weitere Untersuchung, die von den PISA-Forschern vorgenommen wurde, belegt, dass die Deutschen zwar zwischen 15 und 24 noch dazulernen, allerdings vor allem die Wohlhabenden. Das bedeutet, dass gerade bei jenen, denen die Grundkompetenzen abgehen, diese sich eher nicht verbessern.
Die Schule, die eigentlich der wichtigste Apparat ist, um eine Integration zu ermöglichen, wird so zu einer Maschinerie, sie zu verhindern. Auf der Skala der Möglichkeiten zwischen einer Kontrolle der Migration und deren Förderung wird Deutschland die Schlechteste wählen: weit geöffnete Türen, gefolgt von völliger Missachtung. Für beide Seiten, die schon in Deutschland lebenden wie die Kinder migrantischer Eltern, die zynischste Version.
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