Analyse Oppositionelle Träume: Farbrevolution oder Militärputsch in Moskau
Katz gilt in Russland gerichtlich als “ausländischer Agent” und wurde 2023 in Abwesenheit zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Ein Jahr zuvor, um den Beginn der militärischen Sonderoperation herum, hatte er hastig und in weiser Voraussicht Russland verlassen.
Ein weiteres moralisches Projekt dieser besseren Russen: Die Nationalhymne und das Wappen Russlands gehören als “Symbole der Schande” abgeschafft. Die Ausstellung eines “Reisepasses eines guten Russen” wird auch als Anbiederung an den Westen benutzt, um sich von “Putins Russland” noch weiter zu distanzieren. Auch die drei Farben der russischen Flagge – die sogenannte Trikolore – müssten radikal reformiert werden: In fast jeder Edition des Forums wird gefordert, eine neue Nationalflagge zu etablieren. Ohne den roten Streifen, denn dieser stehe selbstredend für das unbarmherzig und autoritär vergossene Blut. All dies seien geplante Zeichen – gesetzt, um dem neuen “freien Russland” zu einer Loslösung von der putinistisch-imperialistischen Vergangenheit zu verhelfen.
“Wir haben bereits unsere eigene Flagge”, wird mutig ausgerufen – weiß-blau-weiß. Nun gehört noch ein weißer Davidstern in die Mitte, und man hat schon fast wieder eine invertierte Israel-Flagge. Das würde dann auch zu der bedingungslosen Unterstützung passen, die das ach so freidenkerische Forum Freies Russland dem Staat Israel und all seinen “Abenteuern” gewährt. Böse Zungen, die mit diesem Artikel nichts zu tun haben, könnten sogar behaupten, dass dieser sensible Umstand tatsächlich helfen könnte zu ermitteln, wer da sonst noch gerne diesen unzufriedenen Exilrussen aus dem Ausland halbleere Finanzspritzen zuwirft.
“Ich kann nicht in einem Land leben, das mit seinen Nachbarn Krieg führt”, heißt es oft bedeutungsschwanger unter den oppositionellen Lamentierern, die dem gesamten historischen Kontext der militärischen Sonderoperation gegenüber bereitwillig ignorant sind. Dann hört man jedoch, dass diese empörten und tief empfindenden Dissidenten oftmals ausgerechnet in die westliche und einzige Demokratie im Nahen Osten namens Israel auswandern (wie der zuvor bereits erwähnte Katz übrigens). Ein Land, das mit seiner “humanitärsten Armee der Welt” beileibe nicht dafür bekannt ist, mit seinen Nachbarn irgendwelche Kriege zu führen, nicht wahr? Selbstverständlich kommt als Konter das durch keinen Umstand eingeschränkte Recht Israels auf Selbstverteidigung und Genozid staatenloser und enteigneter Palästinenser.
“Es ist absolut wichtig, den Krieg nicht nur nach Brjansk und Kursk zu bringen, sondern besonders nach Weißrussland” – so selbstsicher argumentiert seine militärische Strategie, Russland in die Knie zu zwingen, ein weiterer Forumsgast sowie Abgeordneter der ukrainischen Werchowna Rada.
Ein litauischer Abgeordneter, der ebenfalls geladen war, rief Folgendes aus – nicht ganz, ohne einen Vorwurf an Onkel Sam mit anzuheften: “Wir als Litauer setzen unsere Hoffnung nicht auf die USA. Wir hoffen auf unsere Nachbarn: Uns werden die Finnen helfen, uns werden die Schweden helfen, uns werden die Polen helfen. Die US-Amerikaner können bei sich in Kalifornien weiter ihren Latte trinken.” Gut, dass Helsinki und Stockholm erst kürzlich von der demokratischen Gravitation des Schwarzen Lochs namens NATO hineingezogen wurden. Zufälle gibt es.
Diesen wiederkehrenden Frust über einen allzu reservierten und beschwichtigenden Westen formuliert Kasparow so: “Biden, Scholz, Macron und Keir Starmer – was ist das, wenn nicht eine Ansammlung politischer Impotenter? Die besprechen werden, wie man am besten einen Teil der Ukraine Putin überlässt?”
Trotzige Polemik, die begeistert. Es ist eine rührende Illustration dessen, wie man die Hand beißt, die einen füttert. Nur ob diese Art rhetorische Rochade Kasparows wirklich die erhofften langfristigen Erfolge zeitigt, bleibt selbst für rationale und neutrale Beobachter ausgesprochen fraglich.
Litauen als Gründungsheimat von Kasparows Forum will wirken wie das gallische Dorf Goscinnys und Uderzos, das sich dem Römischen beziehungsweise Russischen Imperium trotzig entgegenstellt. Nur gibt es hier nicht einen druidischen Zaubertrank, der den Subjekten zeitweise ungeahnte Körperkräfte verleiht – hier nimmt man eher vorlieb mit dem sicherlich auch prickelnden, aber wirkungslosen Cocktail aus kognitiver Dissonanz, Logik peinigender Megalomanie und einer Prise irrationalem Hass.
Meinung Tyrannei der “Guten” – Harakiri des Westens
Wie eine moderne psychotherapeutische Sitzung (voller Patienten, jedoch ohne Therapeuten), in der man einander für die ausufernde Realitätsferne gratuliert, statt sie in Schach zu halten, lautet das alles überwölbende Motto und Ziel von Kasparows Forum: “Der Sieg der Ukraine und die Freiheit für Russland”.
Apropos Sieg: Auf dem Forum selbst ertönten auch widerwillig faktentreue Stimmen, die sich nicht ganz der Wirklichkeit verweigern konnten – prowestliche Experten, die unfreiwillig eingestanden haben, dass – entgegen der innigen Hoffnungen der Dissidenten-Community – das heutige Russland unter Putins Präsidentschaft alles andere als am Abgrund steht. Die westlichen Sanktionen führten dazu, dass Russland das mit Abstand kleinste Haushaltsdefizit der industrialisierten Länder (besonders im Vergleich mit dem Westen) aufweist und ein dramatisches Sinken der Arbeitslosenzahlen erlebt. Es wird sogar daran erinnert, dass allein im Jahr 2023 in Moskau 14 unterirdische Metrostationen und 70 oberirdische Metrostationen gebaut und in Betrieb genommen wurden. “Wenn man diese neu erbaute Streckenlänge insgesamt nimmt, handelt es sich um ein Drittel des gesamten Berliner U-Bahnnetzes und die Hälfte der Berliner S-Bahn”, hieß es weiter.
Was für eine süße Ironie, dass sich die russischsprachigen Lakaien des Westens, getarnt als “authentische russische Opposition im Exil”, unter der Führung Kasparows mit ihrem größenwahnsinnigen sowie blutrünstigen Wunschkonzert selbst Schachmatt setzen.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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