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Von Zhandra Flores
Lateinamerika scheint im Zeichen des politischen Wandels zu stehen. Die regionale Bilanz 2023 umfasst Themen wie einen Putschversuch in Brasilien, die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen der Regierung Venezuelas und dem extremistischsten Flügel der Opposition sowie die Justizangriffe auf den gewählten Präsidenten Guatemalas. Wir können die Liste mit Kolumbien fortsetzen, mit den schwierigen Fortschritten auf dem Weg zum “totalen Frieden”, während in Chile der Versuch scheiterte, eine neue Verfassung zu verabschieden, und in Argentinien der rechtsextreme Javier Milei die Präsidentschaftswahlen gewann.
Obwohl es sich um Situationen handelt, die weder in ihrer Intensität noch in ihren Auswirkungen miteinander vergleichbar sind, lässt sich in ihnen ein gemeinsames Merkmal feststellen: Die liberalen Demokratien stoßen aufgrund von politischen und sozialen Konflikten an ihre institutionellen Grenzen und können die Krisen nicht wirksam bewältigen.
Lang lebe die Freiheit?
Argentinien hat sich in diesem Jahr für einen radikalen Wandel entschieden. Die langanhaltende Wirtschaftskrise ebnete dem ultraliberalen Ökonomen Javier Milei den Weg zum Präsidenten des Landes. Vor zwei Jahren wurde er als Gast in Fernseh-Talkshows bekannt, nun erhielt er knapp über 55 Prozent der Stimmen.
Argentinien: Präsident Milei hat Plan B zur Durchsetzung radikaler Reformen
Milei versprach ein Schockprogramm, um die staatlichen Kontrollen in der Wirtschaft zu beseitigen und um Privatisierungen, Preisliberalisierung und Massenentlassungen zu ermöglichen. Sein Programm wird vom Internationalen Währungsfonds (IWF) unterstützt. Im Jahr 2018 häufte Präsident Mauricio Macri IWF-Schulden in Höhe von 44 Milliarden US-Dollar an, um damit eine massive Kapitalflucht abzubremsen. Die ersten Schritte des Wirtschaftsplans wurden am 20. Dezember mit dem Regierungserlass der “Nationalen Dringlichkeit” (DNU) angekündigt. Dann folgte das sogenannte “Omnibus-Gesetz” mit über 300 Gesetzesreformen. Ziel ist die erklärte “totale Freiheit” der Ökonomie.
Das Dringlichkeitsdekret löste bei Gewerkschaften und einfachen Bürgern Ablehnung aus. Sie organisierten Proteste und legten Rechtsmittel gegen die Vorschläge des Präsidenten ein, weil sie verfassungswidrig seien.
In der Zwischenzeit hat die Exekutive mit strengen Vorschriften reagiert. Sie kriminalisiert das Protest- und Versammlungsrecht ihrer Kritiker, verstärkt Polizeikontrollen und verfolgt Oppositionelle mit Justizverfahren. Milei bezeichnet sie als Schmarotzer der staatlichen Sozialpolitik und versucht, damit die Gesellschaft zu spalten.
Sowohl der “Dringlichkeitserlass” als auch das “Omnibus-Gesetz” müssen beide Kammern des Kongresses passieren, in denen die Regierungspartei keine Mehrheit hat. Im Vorgriff auf eine mögliche Ablehnung kündigte Milei bereits an, den Präsidialerlass einem Referendum zu unterziehen.
Antidemokratie in Brasilien
Am 8. Januar 2023, nur eine Woche nach der Vereidigung des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva für eine dritte Amtszeit, brachen Anhänger seines Vorgängers Jair Bolsonaro (2019-2022) gewaltsam in das Regierungsgebäude in Brasília ein.
Analyse
Brasiliens Präsident zu Besuch in Deutschland – eine Begegnung auf Augenhöhe
Der wütende Mob konnte ungehindert schwere Sachbeschädigungen verursachen. Das weckte die Erinnerung an die Ereignisse von vor ein paar Jahren in den Vereinigten Staaten, als Anhänger des ehemaligen Präsidenten Donald Trump das Kapitol in der Annahme stürmten, Joe Biden habe seinen Sieg mithilfe von Wahlbetrug erreicht.
Der Vorfall deutete direkt auf Bolsonaro. Dem früheren Militärangehörigen wurde vorgeworfen, verschiedenen Befehlshabern der Streitkräfte einen Putschplan gegen Lula vorgelegt zu haben. So zumindest lauten die Aussagen des Oberstleutnants Mauro Cid gegenüber den Behörden. Als Belohnung winken Vorteile in seinem Gerichtsverfahren.
Auch die interparlamentarische Kommission, die mit der Untersuchung des versuchten Aufruhrs beauftragt war, machte Bolsonaro direkt für die Ereignisse verantwortlich. Sie forderte seine strafrechtliche Verfolgung wegen krimineller Handlungen. Die Kommission war der Ansicht, dass “er der intellektuelle oder moralische Urheber der Angriffe auf die Institutionen sei”.
Der Versuch, Lula gewaltsam aus dem Amt zu entfernen, wurde von den Regierungen der Welt und jenen brasilianischen Institutionen, die bereit waren, die Fakten gründlich zu untersuchen und die Verantwortlichen hart zu bestrafen, einhellig verurteilt. Dennoch zeigen die Ereignisse im Januar 2023, dass in Brasilien eine starke konservative Bewegung existiert, die im Fall von wachsenden Spannungen entschieden antidemokratische Formen annehmen kann. Sie findet Unterstützung im Staat, auch wenn sie vorläufig noch keine Mehrheit besitzt.
Guatemala oder das neue Gesicht der “Lawfare” (des Justizkrieges)
Im Jahr 2023 kam es in Guatemala zu einem beispiellosen Vorpreschen von Teilen der Justiz, um die Amtsübernahme des progressiven Bernardo Arévalo de León zu verhindern. Er hatte in der zweiten Runde die Präsidentschaftswahlen am 20. August gewonnen.
Analyse
Putsch gegen die Demokratie in Guatemala – die Maya-Indigenen im Widerstand
Die Partei des Wahlsiegers, die “Semilla-Bewegung”, verlor per Gerichtsbeschluss ihren rechtlichen Status. Die Staatsanwaltschaft eröffnete zahlreiche Verfahren gegen Anführer dieser politischen Organisation und versuchte sogar, die Wahlen zu annullieren.
Die Bürger reagierten mit massiven Straßenprotesten, Straßensperren und Generalstreiks, mit denen sie den Rücktritt der Generalstaatsanwältin Consuelo Porras forderten. Gleichzeitig verurteilten Regierungen in der Region – einschließlich der USA – sowie multilaterale Organisationen (UNO, OEA, EU) und internationale politische Foren die Versuche von Justizbehörden, den bei den Wahlen zum Ausdruck gebrachten Willen der Bevölkerung zu untergraben.
Arévalo soll am 14. Januar die Präsidentschaft übernehmen. Er hat inzwischen versichert, dass der institutionelle “Putsch” inzwischen “blockiert” sei. Doch die Ereignisse stellen ein neues Beispiel für den Einsatz von Justizinstitutionen zum Angriff auf die Demokratie dar.
Venezuela und die USA stehen sich gegenüber
Nachdem die Dialogrunde fast ein Jahr lang unterbrochen war, haben die Regierung Venezuelas und der rechtsradikale Teil der Opposition den Dialog am Konferenzort Barbados wiederaufgenommen. Es geht um die Bedingungen für die Präsidentschaftswahlen 2024.
Venezuela reagiert zornig: Großbritannien entsendet Kriegsschiff nach Guyana
Bei dem Treffen am 17. Oktober wurden zwei Abkommen unterzeichnet. Das eine bezieht sich auf Garantien für die Wahlbeteiligung, das andere auf die Verteidigung des umstrittenen Territoriums von Guayana Esequiba, über das in einem Justizverfahren zwischen Venezuela und der Kooperativen Republik Guyana verhandelt wird. Im Verlauf der neuen Dialogrunde gab es eine überraschende Wende, die einen historischen Schritt in der Sanktionspolitik der USA bedeutet. Sie beendeten die Öl- und Bergbausanktionen, die sie vor mehr als fünf Jahren gegen Venezuela verhängt hatten.
Beide Seiten definierten einen Fahrplan für die Wiedereingliederung von Oppositionspolitikern, die vom venezolanischen Rechnungshof wegen illegaler Finanzgeschäfte bestraft worden waren. Gleichzeitig einigten sich Washington und Caracas auf einen Gefangenenaustausch, der unter anderem zur Freilassung des venezolanischen Diplomaten Alex Saab führte, der seit 2020 unrechtmäßig auf den Kapverdischen Inseln festgehalten wurde. Der rechtliche Vorwand einer angeblichen Geldwäsche wurde nie bewiesen.
Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro betonte die Rolle des Emirs von Katar, der in direkten Verhandlungen mit dem Weißen Haus “ein brillanter Vermittler mit exquisiter Diplomatie” gewesen sei. Doha wies darauf hin, dass die Freilassung von Saab Teil einer “umfassenderen” Verhandlung mit den USA sei, bei denen offene Fragen zwischen beiden Ländern geklärt werden.
Die Geschichte spiegelt einen Kurswechsel in der Politik der US-Regierung gegenüber Venezuela wider. Man hat in Washington verstanden, dass die von der Trump-Regierung vertretene Politik des “maximalen Drucks” gescheitert ist, und drängt nun den radikalen Flügel der Opposition in eine untergeordnete Position zurück. Es hat sich gezeigt, dass kein politischer Sektor in Venezuela eine echte Alternative zum Chavismus bilden kann, selbst wenn er von den USA unterstützt wird.
China und Kolumbien heben ihre Beziehung auf Ebene der strategischen Kooperation
Das Kommen und Gehen von Petros “totalem Frieden”
Im Jahr 2023 musste die Politik des “totalen Friedens” des kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro mehrere schwere Proben durchstehen. Sie stellten die Wirksamkeit der Strategie zur Beendigung des über sechs Jahrzehnte dauernden bewaffneten Konflikts in Kolumbien infrage.
Obwohl es bei den Gesprächen mit der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) Fortschritte gab, brachte die Entführung des Vaters des Fußballspielers Luis Díaz die Friedensverhandlungen in eine erneute Krise. Die Regierung und ein großer Teil der Gesellschaft verurteilen diese Praxis, doch die Guerilla verteidigt sie mit dem Argument, sie habe keine andere Möglichkeit, sich zu finanzieren.
Auch wenn die Regierung in Bogotá einen Dialog mit der Guerillaorganisation EMC führen konnte (einer Dissidentengruppe der nicht mehr existierenden FARC), waren die Fortschritte in diesem Fall dürftig. Angesichts des gesellschaftlichen Drucks beschloss Präsident Petro, die Führungskräfte an der Spitze seiner Verhandlungsdelegation zu erneuern.
In einem Nachtrag haben sowohl das Büro des kolumbianischen Ombudsmanns als auch die Vereinten Nationen davor gewarnt, dass Praktiken wie Massaker an der Landbevölkerung und die selektive Ermordung von Sozialführern und Menschenrechtsverteidigern trotz der Bemühungen der Regierung fortbestehen. Offenbar konnten die mächtigen Strukturen des Drogenhandels, des Landraubs für die Agrarindustrie und der umweltfeindlichen Bergbaupraktiken bislang noch zu wenig eingegrenzt werden.
Keine Verfassungsänderung in Chile
Chile stimmt gegen rechtsextreme Verfassungsreform – Pinochets Verfassung bleibt damit gültig
In Chile scheiterte der zweite Versuch einer Verfassungsänderung, um jene des Diktators Augusto Pinochet (1973-1990) zu überwinden. Nach einer ersten Niederlage der Regierung von Gabriel Boric im September 2022, als die Mehrheit einen Vorschlag mit stark progressiven Vorschlägen ablehnte, entschieden sich die Bürger für die Wahl eines von rechts-außen dominierten Verfassungsrates. Doch auch dessen Text war nicht in der Lage, den Forderungen der chilenischen Mehrheit gerecht zu werden, die sich als politisch gemäßigt definiert. In dem ganzen Prozess trug allerdings eine aggressive Pressekampagne zur Desinformation bei.
In diesem Kampf wurden die Möglichkeiten der Regierung von Präsident Gabriel Boric geschwächt, die von ihr im Wahlkampf versprochenen Reformen zu verwirklichen. Die progressiven Veränderungen sind größtenteils mit einem Verfassungsrang verbunden. Der chilenische Fall ist ein klarer Ausdruck der Unfähigkeit der politischen Klassen, die von der Bevölkerung geforderten Veränderungen durchführbar zu machen.
Übersetzt aus dem Spanischen.
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