Quelle: www.globallookpress.com © Kay Nietfeld 15. Dezember 2022, Berlin: Wolfgang Schäuble (CDU) spricht im Bundestag.
Von Gert Ewen Ungar
Vermutlich werden in einer Talkshow in Nordkorea weitaus kritischere Fragen gestellt, als sie Markus Lanz am 14. Dezember seinem Interviewpartner gestellt hat. Sein Gegenüber war Wolfgang Schäuble, ehemaliger Innen- und Finanzminister, Bundestagspräsident und schließlich Alterspräsident. 50 Jahre sitzt Schäuble im Bundestag. Es ist an der Zeit, dass er geht. Endlich, möchte man sagen. Schäuble hat der EU großen Schaden zugefügt und ihren Zerfall eingeleitet. Ginge er jetzt, wäre dies ohnehin viel zu spät.
Wolfgang Schäuble hat seit 50 Jahren ein Dauerabonnement für die CDU im Deutschen Bundestag. Er ist Berufspolitiker und ebenso umstritten wie skandalumwittert. Den CDU-Vorsitz und den Fraktionsvorsitz sah sich Schäuble gezwungen, anlässlich einer Spendenaffäre abzugeben. Sein Name steht emblematisch für politische Korruption in Deutschland.
In der Finanzkrise von 2007 und 2008 brachte Schäuble in einem genialen politischen Schachzug die EU unter die deutsche Austeritäts-Knute, schadete ihr aber wirtschaftlich derart, dass seitdem die Fliehkräfte zunehmen. Seit dem von Schäuble diktierten Austeritätskurs ist die EU, insbesondere die Währungsunion, in einem wirtschaftlichen Sinkflug und taumelt, ohne große wirtschaftliche Resilienz aufbauen zu können, von einer Krise zur nächsten.
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Es gäbe daher eigentlich viel zu besprechen, viel zu fragen und zu klären. Lanz und Schäuble entscheiden sich dagegen für die Aufführung eines Sitztanzes der Themenvermeidung. Es werden Themen in den Raum gestellt, um sie dann fallen zu lassen. Moderator und Gast sind sich bei vielen Themen so einig, dass sich zu fragen ihrer Auffassung offenbar gar nicht lohnt. Eine Vertiefung ist die Mühe nicht wert. Man ist im Konsens. Russland, Demographie, China, Ukraine – da gibt es keine Kontroverse, und es entsteht der Eindruck, Deutschland geht es gut, Deutschland macht alles richtig – im Großen und Ganzen jedenfalls.
Ja, die Abhängigkeit von Russland war ein Fehler, gesteht Schäuble und Lanz nickt. Man arbeitet das jetzt auf. Schäuble war schon immer gegen Nord Stream, erfährt man, aus welchem Grund, bleibt ungewiss. Die Abhängigkeit von China ist ebenfalls Thema, auch hier lauert Gefahr, ist man sich einig. Die weit größere Abhängigkeit von den USA und die damit zusammenhängenden Gefahren erwähnt weder Lanz noch Schäuble.
Schäuble gibt vor, in Bezug auf Russland und die entstandenen Abhängigkeiten die Fehler bei sich und in seiner Partei suchen zu wollen, sieht sie aber dann doch nur bei Russland. Mit Russland Geschäfte zu machen, ist falsch, suggerieren beide. Dass Russland, was die Lieferung von Pipeline-Gas angeht, bis zur Selbstaufgabe vertragstreu war, verschweigen Lanz ebenso wie Schäuble.
Wer ein Interesse an der Sabotage der Nord-Stream-Pipelines haben könnte – es ist kein Thema. Ob und welche Alternativen es zu Nord Stream gegeben hätte, dazu verlieren beide kein Wort. Dabei gibt es offenbar keine echte Alternative, wie das aktuell laufende Drama um Gas-Preise und LNG-Lieferungen zeigt. Die deutsche Wirtschaft wird durch das Ausbleiben günstigen Gases aus Russland schwere Wettbewerbsverluste erleiden. Für Lanz ist das irrelevant, er greift das für alle Deutschen wichtige Thema erst gar nicht auf.
Meinung
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Was er dagegen thematisch vertieft, ist die Abhängigkeit von China. Was wie ein schlechter Witz wirkt, ist von Lanz offenkundig ernst gemeint, denn Ausgangspunkt für seine Furcht vor einer sich vertiefenden Abhängigkeit von China ist der Verkauf des Hafens von Piräus während der Griechenlandkrise an China. Er macht Schäuble dafür verantwortlich. Man würde die Fehler, die man in Bezug auf Russland gemacht hat, nun mit China wiederholen.
Schäuble hat in der Griechenlandkrise nach Auffassung von Lanz diesen einen großen Fehler begangen, indem er dafür gesorgt hat, dass eine staatliche chinesische Reederei im Rahmen der als Heilmittel geforderten Privatisierungen den Hafen von Piräus kaufen konnte. Schäuble hat während der Griechenlandkrise ganz viele Fehler gemacht, der Verkauf des Hafens von Piräus war allerdings keiner.
Was in Deutschland seit Jahr und Tag völlig unberichtet und ohne jeden Niederschlag in den Nachrichten bleibt, ist, dass die unter Wolfgang Schäuble verordnete Rosskur für Griechenlands Wirtschaft mit massiven Einsparungen und Streichungen, Senkung der Gehälter und Sozialleistungen, das Ziel einer Senkung der Staatsschulden nie erreicht hat. Sparen in der Krise führt nicht aus der Krise, sondern tiefer in sie hinein. Griechenland ist das beste Beispiel dafür, dass dieser Lehrsatz der keynesianischen Volkswirtschaftslehre richtig ist. Der deutsche Mainstream bereitet über das Versagen der damals hoch gepriesenen Austeritäts- und Spar-Rezepte den Mantel des Schweigens.
Analyse
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Durch die massive Senkung des BIP durch den verordneten Kahlschlag ist die Staatsverschuldung Griechenlands im Verhältnis zum BIP nicht zurückgegangen, sondern sogar noch gestiegen. Griechenland sitzt in der Schuldenfalle. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt dort bei mehr als tragischen 27 Prozent, die Arbeitslosenquote lag 2021 über eine Dekade nach dem Ausbruch der Krise noch immer bei tristen 15 Prozent. Der Kurs, für den der damalige Finanzminister von der deutschen Presse bejubelt wurde, ist absolut gescheitert. Einsicht, Selbstkritik sucht man sowohl bei Schäuble als auch bei den deutschen Medien, die Schäubles harten Kurs bejubelt haben, vergeblich.
Austerität wurde aber nicht nur für Griechenland zum Problem. Die gesamte Währungsunion befindet sich seitdem in einer anhaltenden Schwächephase und verliert den Anschluss an die globale Entwicklung. Angesichts der verheerenden Auswirkungen der Politik Schäubles in Griechenland und ihren Auswirkungen auf die EU ist es völlig unverständlich, warum Lanz ausgerechnet den Hafenverkauf an “die Chinesen” zum Thema macht. Der Verkauf des Hafens von Piräus war vermutlich eins der wenigen Dinge, die zumindest für die Beschäftigten einen positiven Effekt hatten.
Es gibt vom damaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis das Buch “Die ganze Geschichte”, das unter dem Titel “Adults in the Room” verfilmt wurde. Varoufakis hat die Verhandlungen mit der Euro-Gruppe und dem IWF mitgeschnitten und veröffentlicht. Wolfgang Schäuble kommt dabei nicht gut weg. Im Film wird er von Ulrich Tukur gespielt. Der Film ist insgesamt hochkarätig besetzt. Wenn sich jetzt der ein oder andere fragt, warum er von diesem Film noch nie etwas gehört, geschweige denn ihn gesehen hat, dann lautet die Antwort: Der Film wurde in Deutschland nie gezeigt. Er hat in Deutschland keinen Verleih gefunden. Ohne politische Einflussnahme ist das absolut nicht zu erklären. Der zensierende Einfluss von Politik nahm seitdem sicherlich noch deutlich zu – keine Frage. Er erreicht in Deutschland inzwischen ein Ausmaß, das man nur von Diktaturen kennt. Es ist zu vermuten, dass Schäuble diese Entwicklung eingeleitet und aus dem Hintergrund auch befördert hat. Seine Ausfälle gegen Russland sprechen dafür.
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Da sind wir beim nächsten Thema: dem Demokratieverständnis von Wolfgang Schäuble. Er wird insbesondere von konservativen Blättern wie der FAZ als glühender Europäer und lupenreiner Demokrat gefeiert. Das ist mit Sicherheit nicht richtig. Auch im Interview mit Lanz wird die Widersprüchlichkeit des Verhältnisses von Schäuble zur Demokratie deutlich. Die Demokratie sei nur so stark wie das Bekenntnis ihrer Bürger zu ihr, meint Schäuble. Gleichzeitig ist er sich sicher, dass sich Politik nicht vom Bürgerwillen beeinflussen lassen sollte. “Die Politik muss führen”, sagt er deutlich. Dass nach seiner Auffassung Wahlen nichts ändern können, sagte er ebenfalls deutlich. Mit diesem Satz empfing Schäuble den frisch gekürten griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis bei seinem Antrittsbesuch in der Eurogruppe nach der Wahl des Linksbündnisses Syriza in Griechenland zur Regierungspartei.
So wirkt die Sorge um sinkende Wahlbeteiligung und Leserzahlen bei den Blättern der großen deutschen Medien denn bestenfalls auch geheuchelt. Um Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen, empfiehlt Schäuble bessere Kommunikation von Politik und nicht Änderung eines auf ganzer Linie gescheiterten Konzepts von Politik, für das seine politische Laufbahn steht. Schäuble betet das gesamte neoliberale Credo herunter und bekommt dafür von Lanz die Stichworte geliefert. Demographischer Wandel beispielsweise. Die Geschichte von der Bedrohlichkeit des demographischen Wandels für das Rentensystem ist allerdings nur dann richtig, wenn man den Produktivitätszuwachs und regelmäßige Lohnsteigerungen außer Acht lässt. Lanz und Schäuble tun es und kommen zu dem gewünschten Ergebnis, das dadurch allerdings nicht wahrer wird.
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Was man sonst noch in der Sendung erfährt: China ist nicht so stark, wie es sich präsentiert. Russland hat riesige Probleme. Das macht beide Länder gefährlich, glaubt Schäuble und Lanz nickt zustimmend. In Deutschland läuft es dagegen ganz gut. Wenn es Ihnen zu kalt ist, ziehen Sie einen zweiten Pulli an und hören Sie auf, Ansprüche an die Politik zu stellen, ist Schäubles Forderung ans Publikum. Lanz lächelt. Journalismus auf höchstem Niveau.
Lanz betreibt eine Form des Journalismus, die zu dessen Niedergang führt. Er versteht seine Aufgabe darin, Politik die mediale Basis zur Verfügung zu stellen, die Schäuble für sein Politik-Konzept von Führung der Bürger braucht. Beides ist nur schwer mit der Idee von Demokratie in Übereinstimmung zu bringen. Die Preisgabe der journalistischen Aufgabe zugunsten der Erklärung vom Regierungshandeln gegenüber den Bürgern hat gerade zu der Medienkrise geführt, in der sich Deutschland aktuell befindet. Die aktuelle Krise wurde ausgelöst durch Politiker wie Schäuble, die Politik gegen die Interessen und den Willen der Bürger machen und sich Journalisten als Mittel zur Vermittlung bedienen. Schäuble hat dies zur Perfektion gebracht – die Berichterstattung zur Griechenlandkrise ist das Beispiel dafür. Er hat die EU damit schwer beschädigt. Die deutschen Medien haben dazu applaudiert. Lanz applaudiert der verfehlten Politik Schäubles noch heute.
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