Meinung
Annalena Baerbock: “Wiedervereinigung Europas” auf den Schultern ihres Wehrmacht-Großvaters?
Stehen Sie also in der Tradition der deutschen Kriegsgeschichte? Das sollten Sie besser, denn Solidarität mit der Ukraine sollte genaugenommen auch bedeuten, Seit’ an Seit’ mit den Soldaten zu kämpfen, die aufopferungsvoll auch Ihre Freiheit verteidigen.
Wie wär’s? Sie in Uniform? Mit Helm und Stiefeln und natürlich einem Gewehr? Immer auf der Hut und der Suche nach russischen Feinden, die Sie beseitigen können? Für die Freiheit? Machen Sie sich bitte keine Gedanken über die unangenehmen Seiten des Krieges, das ist nur Gerede und wird maßlos übertrieben. Sicher, niemand kann Ihnen garantieren, dass Sie mit allen Körperteilen, die Ihnen lieb und teuer sind, wieder nach Hause kommen, wenn Sie für Ihr Land und den Wertekanon gesungen und geschossen haben. Auch für Ihre Innereien gibt es keine Garantie auf Unversehrtheit. Es könnte schon passieren, dass Sie Ihr Leben, Ihre Ernährung, Ihr Berufsleben (sollten Sie es noch ausüben können) ein wenig anpassen müssen. Gewisse körperliche Einschränkungen gehören aber dazu, das wissen Sie sicher.
Und auch Ihre Psyche könnte für den Seelenfrieden, der sich daraus ergibt, das Richtige zu tun, ein wenig leiden. Posttraumatische Belastungsstörungen, das kennen Sie ja bestimmt. Alpträume, Ängste, Selbstverletzungen, Sucht nach Alkohol, Drogen, Tabletten, okay, ja. Aber dafür stehen Sie auf den Schultern der Demokratie, ein wenig wackelig vielleicht, aber doch einigermaßen standhaft.
Deutsche Tradition
Bitte denken Sie an die deutsche Geschichte, wenn Sie jetzt Waffen für die Ukraine fordern, wenn Sie gar bereit wären, selbst in die Schlacht für die Gerechtigkeit zu ziehen. Und vergessen Sie nicht, dass im Zweiten Weltkrieg vielleicht sogar Mitglieder Ihrer Familie gegen die Russen gekämpft haben, sie angegriffen haben, um es genauer zu beschreiben.
Vergessen Sie nicht die vielen Opfer auf der russischen Seite, die einen wesentlichen Teil der deutschen Tradition ausmachen. Gefällt Ihnen die Vorstellung, eine zweite Chance zu bekommen? Finden Sie es gut, diesmal womöglich endlich auf der Seite der Sieger zu stehen und den Russen zu zeigen, welche Rasse voller Herrlichkeit und Gerechtigkeitsempfinden ist, nämlich die Deutsche?
Haben Sie einmal etwas vom “Großen Vaterländischen Krieg” gehört? Oder vom “Unsterblichen Regiment”? Die Russen meinen damit den Zweiten Weltkrieg und die Armee, die sich gegen das Böse, das faschistische Deutschland, erfolgreich zur Wehr gesetzt hat. Tragischerweise mit mehr Opfern, als nötig gewesen wäre, weil Russland zu lange auf Frieden gehofft und der Menschlichkeit vertraut hatte. Dieses Zögern führte zu einem verheerenden Überraschungsangriff der Deutschen auf die Russen, die dafür teuer und mit vielen Leben bezahlen mussten.
Meinung
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Wenn Sie sich der deutschen Geschichte bewusst sind, wenn Sie wissen, was für schreckliche Taten von den Deutschen ausgingen, und wenn Ihnen klar ist, dass es in erster Linie Russland war, das die Deutschen vom Nationalsozialismus befreit hat, dann gehen Sie – bitte! – noch einmal in sich und zögern Sie. Seien Sie der Zauderer, seien Sie unsicher und denken Sie darüber nach, ob die Sache, für die Sie kämpfen wollen, wirklich so rein und klar ist wie Ihnen Glauben gemacht werden soll.
Sie könnten auch etwas anderes tun: Sie könnten im Mai 2023 nach Russland fahren. Sie könnten vorher in Ihrer Familiengeschichte nach Angehörigen suchen, die sich gegen den Faschismus gewehrt haben. Sie könnten sodann ein Foto von einem der Widerstandskämpfer Ihrer Familie auf ein Schild drucken lassen. Und dann gehen Sie am 9. Mai mit, wenn der Marsch für das “Unsterbliche Regiment” beginnt.
Sie und die Hunderttausende Russen, die mit Ihnen unterwegs sein werden, verbindet auf diesem Marsch etwas, das eine bleibende Verbindung bedeuten kann: Der Kampf gegen den Faschismus.
Quelle