Meinung
Überleben in einer Stadt, die zu einer Katastrophenkulisse geworden ist – Eine Reportage
Von allen erwähnten Städten war Donezk schon lange vor meinem Besuch der gefährlichste Ort. Präsenzunterricht in der Schule kann dort seit Langem nicht mehr stattfinden. Nicht so in der Bergbaustadt Sneschnoje 80 Kilometer östlich von Donezk, wo wir in einer Schule am Ortsrand drehen durften. Mittlerweile scheint sich hier keiner mehr an die Tragödie der Boeing zu erinnern. Deren Trümmer fielen direkt auf das Feld hinter der Schule, sagte mir die Schulleiterin. Aber dieses Ereignis scheint ihr nicht mehr so wichtig zu sein.
Am Tag meines Besuches war in der Schule ein Team russischer Ärzte aus dem Ural-Gebiet tätig, um den Gesundheitszustand der Schüler zu untersuchen. Zu diesem Zweck sind in allen neuen russischen Regionen derzeit 450 russische Ärzte unterwegs. Jene Mädchen aus der neunten Klasse, mit denen ich ins Gespräch kam, leben zum Glück in intakten Familien und wollen studieren – Psychologie, Informatik. Es war schön, etwas über solche Träume in diesem verlassenen, infolge zerstörter Straßen schwer zugänglichen Ort zu hören.
Mehr als die Hälfte aller Häuser in Wolnowacha wurde während der Kämpfe zerstört oder beschädigt. Jetzt ist es hier ruhig. Zwar liegt der Ort nur 30 Kilometer entfernt von der Frontlinie nahe Ugledar im Westen der Donezker Volksrepublik, aber dennoch ist diese Kleinstadt bereits Hinterland. Allerdings werden Orte westlich der Stadt immer noch beschossen. Zum Zeitpunkt meiner Reise traf es ein bewohntes Kloster, das stark beschädigt wurde durch den Angriff, bei dem auch ein Zivilist starb.
Sicherheit ist deshalb die wichtigste Voraussetzung für einen friedlichen Wiederaufbau. In der Stadt selbst wurde seit langem kein Beschuss mehr gemeldet. Arbeiter aus anderen russischen Regionen samt Baumaschinen prägen deshalb seit Monaten das Straßenbild in Wolnowacha. Bei den jungen Menschen, mit denen ich hier in Kontakt kam, fiel mir ihre Unbekümmertheit und Optimismus auf – trotz aller Kriegserlebnisse. Sie wurden in der Ukraine geboren und lebten noch vor einem Jahr unter ukrainischer Verwaltung, besuchten Schulen und Universitäten. Jetzt wollen sie ihre Region als einen neuen Teil Russlands aufbauen.
Proukrainisch gesinnte Einwohner gibt es in diesem neuen russischen Gebiet trotzdem. Das erzählten mir im dörflichen Vorort von Wolnowacha alte Frauen, deren Häuser von den Kämpfen beschädigt wurden. Solche Bürger treten nur ungern mit den anderen in Kontakt. Proukrainer soll es auch in dem von der Ukraine beschossenen Donezk geben. Das berichtete mir Anna, die Frau eines Volksmilizkämpfers im unseren Interview in Juli. Mit diesen Menschen diskutiere sie in ihrem Bekanntenkreis, aber deren politische Einstellung lasse sich von keiner Diskussion beeinflussen, sagte sie.
Offenbar gibt es in Donezk sogar Helfer der ukrainischen Armee. An einem der zahlreichen beschossenen Orte im Zentrum der Stadt, wo ich gedreht habe, erzählte mir eine Einwohnerin über mutmaßliche Richtschützen. Eine Fremde habe im Hofbereich ihres Hauses mit ihrem Smartphone hantiert. Als sie entdeckt wurde, floh sie. Nach wenigen Minuten wurde diese Gegend beschossen.
Doch die meisten Zerstörungen in der Donezker Volksrepublik hat Mariupol zu beklagen. Die Stadt war über all die acht Jahre des Minsker Prozesses eine Hochburg der Neonazis des Asow-Regiments. Denen gegenüber war die Bevölkerung misstrauisch. Die Rechtsradikalen betrachteten die Einwohner als Separatisten und benutzten sie nach Ausbruch der Kämpfe Ende Februar als lebendigen Schutzschild. Die ukrainischen Militanten trieben die Menschen in die Keller und verhinderten deren Flucht. Sie beschossen auch Wohngebäude aus Panzern und mit Artillerie, Berichte darüber gibt es zuhauf. Die Spezialeinheiten der Donezker Volksrepublik mussten mit russischer Unterstützung aus der Luft die Stadt Straße um Straße zurückerobern. Diese Kämpfe verursachten wohl die meisten Zerstörungen.
In den ersten Monaten danach halfen die verbliebenen Einwohner einander gegenseitig. Doch diese Phase der Solidarität sei lange vorbei, erzählten mir Einwohner von Mariupol. Die Menschen versuchen nun, ihren schweren Alltag allein zu bewältigen, während sie zugleich an die neue Stadtverwaltung immer mehr Ansprüche stellen. Obwohl der Wiederaufbau derzeit bereits im vollen Gange ist, gibt es laut ihren Schilderungen viele Unregelmäßigkeiten.
So berichtete mir die Leiterin eines Zentrums für die Ausgabe der humanitären Hilfe im Bezirk Primorski über windige Subunternehmer, die offenbar Geschäfte mit Baumaterial machen. Fristen für versprochene umfassenden Renovierungsmaßnahmen würden nicht eingehalten, und die Einwohner müssten für solche Arbeiten wie etwa den Einbau neuer Fenster selbst aufkommen.
Menschen wie Tatiana – so heißt die freiwillige Sozialarbeiterin – sind ein Segen für die kriegsgebeutelte Stadt. Viele von solchen Aktivisten haben Mariupol nicht verlassen und wollen beim Wiederaufbau helfen. Die Familie ihres Sohnes ist dagegen nach Polen geflüchtet, während sie hier blieb. Sie zeigte mir Fotos mit ihrem kleinen Enkelkind aus einem Wohnheim.
RT-Kameramann bei der Arbeit. Neue Brücke statt einer zerstörten verbindet nun das rechts- und linksufrige Mariupol Wladislaw Sankin / RT
Tatiana fürchtet, dass viele Mariupoler enttäuscht sein werden, wenn sie nach den schlimmen Entbehrungen des letzten Winters keine baldigen Verbesserungen sehen. Zudem spielten die Misserfolge beim Wiederaufbau der ukrainischen Propaganda in die Hände. Die meisten Mariupoler nehmen den Wechsel von der Ukraine zu Russland freiwillig hin, stellen aber hohe Ansprüche an die neue Regierung. Sie wollen, dass Misswirtschaft und Korruption endlich aus ihrem Leben verschwinden.
Aus der Sicht vieler Einwohner, die bereit waren mit mir an diesen Tagen zu sprechen, gibt es noch zu viele ungelöste Probleme – beispielweise eine unzureichende Abdeckung der Stadt mit Buslinien. Auch ein Bauarbeiter aus der russischen Region Nordossetien im Norden des Kaukasus sprach mich an und sagte, dass er mit seinen Kollegen nach einem Arbeitstag dann stundenlang in der Kälte auf einen Bus warten muss.
Ich habe Glück und kann mit dem Bürgermeister der Stadt Konstantin Iwaschtschenko und seinem Team sprechen. Solange wir im Omnibusdepot auf ein anderes Drehteam warten, kann ich ihn ohne Kamera ausfragen. Er kennt die Beschwerden und verweist auf öffentliche Bürgersprechstunden. Iwaschtschenko strahlt durchaus Zuversicht aus. Zwar seien 70 Prozent der Stadt zerstört, aber die Wiederaufbauarbeiten seien so intensiv, dass die zahlreiche Baumaschinen bereits Staus verursachen. Er hofft, dass die Arbeiten in nur wenigen Jahren abgeschlossen sein werden. Die Mariupoler hätten beim Referendum fast einstimmig für den Beitritt zu Russland gestimmt. Die Menschen kehrten scharenweise zurück, sagt er. Jetzt zähle die Stadt mit 250.000 Einwohnern schon wieder mehr als die Hälfte der früheren Einwohnerzahl.
Iwaschtschenko, ehemaliger Kommunalpolitiker, gehörte früher der inzwischen von Selenskij aufgelösten Partei Oppositionsplattform für das Leben an. Mich wundert, wie schnell und reibungslos die neuen Beamten den Wechsel von der Ukraine zu Russland akzeptieren. Mehr noch: Sie tragen ihn mit und setzen mit ihrem neuen, “russischen” Patriotismus eigene Akzente. Das Bewusstsein einer großen gemeinsamen Heimat, der früheren Sowjetunion und des Russischen Imperiums, ist bei vielen hier – trotz Jahrzehnten antirussischer Propaganda – intakt geblieben.
“St-Petersburg und Mariupol sind Bruderstädte” steht auf dem von der Partnerstadt St-Petersburg geschenken Bus. Ein Linienbus, unterwegs im entlegenen Primorski-Bezirk Mariupols am 3. Dezember Wladislaw Sankin / RT
Donezk war all die Jahre nach 2014 die Hauptstadt des Widerstandes gegen den ukrainischen Nationalismus. Doch in Dezember, neun Monate nach Beginn der russischen Militäroperation zum Schutz der Bevölkerung des Donbass – so ist deren offizielle Bezeichnung, wirkt die Stadt fast wie ausgestorben. Zu oft fallen ukrainische Geschosse hier, dutzendweise pro Tag, willkürlich und wahllos – auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Der Aufenthalt auf der Straße ist hier deshalb nicht zum Verweilen geeignet. Nach Erledigung ihrer täglichen Geschäfte, wie etwa Einkäufe oder Wasserholen, begeben sich die Menschen schnell wieder in die Deckung ihrer Wohnungen.
Doch bei einem Direkttreffer bieten auch sie keinen Schutz. Zwei Wohnungen im zentralen Woroschilowski-Bezirk, die ich unmittelbar nach einem Beschuss besichtigt habe, waren völlig zerstört. Deren Bewohner haben nur durch Glück überlebt. In einem Fall war das Rentnerpaar zum Zeitpunkt des verheerenden Einschlags auf dem Markt. In dem anderen Fall zog die Familie auf eine Datscha im ländlichen Umland und ließ die Wohnung leerstehen. Ihr Nachbar, in dessen Wohnzimmer das Geschoss explodierte, war zu Hause. Aber er befand sich offenbar im Flur, was auch ihm das Leben rettete.
Ukrainische Raketen können jemandem aber auch direkt vor die Füße fallen. So beendete am 6. Dezember ein explosiver Treffer jäh das Leben der Donezker Sozialpolitikerin und Sängerin Maria Pirogowa und des Rockmusikers Wadim Labusow auf grausame Weise. Sie standen in Vorbereitung einer verabredeten Tonaufnahme vor dem Eingang zu seinem Studio im Donezker Haus der Jugend, als dieses beschossen wurde. Dieser Augenblick wurde von einer Überwachungskamera festgehalten und ging durch alle russischen Medien.
Im Westen möchte man solche Beweise der ukrainischen Kriegsverbrechen niemals zeigen. Ein Medienkrieg folgt den gleichen Gesetzen von Lüge und Täuschung wie auch der Krieg mit tödlichen Waffen. Die Menschen in Donezk, die Opfer oder Zeugen solcher Angriffe werden, sind wegen dieser Ignoranz enttäuscht und deren überdrüssig. Umso mehr müssen wir darüber berichten, lautet immer mein letztes Argument, wenn ich sie bitte, darüber auch vor der Kamera zu sprechen. Durch das neunte Sanktionspaket der “Europäischen” Union gegen Russland, das auch neue Strafmaßnahmen gegen die RT -Muttergesellschaft umfasst, ist auch die Korrespondententätigkeit in diesem notleidenden Krisengebiet stark gefährdet.
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