Quelle: www.globallookpress.com © Präsidialamt der Ukraine
Von Tarik Cyril Amar
Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij hat kürzlich erneut für Aufsehen gesorgt. Aber dieses Mal nicht, indem er den Westen daran erinnert hat, wie viel dieser seinem Land schuldet – nämlich alles und noch viel mehr – oder weil ein prominenter Ukrainer, wie zum Beispiel der ehemalige Präsidentenberater Alexei Arestowitsch, seinem ehemaligen Chef Selenskij vorwirft, er habe vor zwei Jahren eine echte und günstige Gelegenheit für einen Waffenstillstand mit Russland nicht wahrgenommen. Auch Gerüchte über Intrigen rund um die militärische Führung von General Waleri Saluschny oder Vorwürfe des Kiewer Bürgermeisters Witali Klitschko sind nicht der Grund dafür. Mittlerweile gehören solche Dinge in Kiew zum gewohnten Hintergrundgeräusch.
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Stattdessen gelang es Selenskij dieses Mal, Aufmerksamkeit zu erregen, indem er ein Dekret “Über die historisch von Ukrainern bewohnten Gebiete der Russischen Föderation” erließ. Vieles in diesem recht kurzen Dokument, das am Tag der ukrainischen Einheit – dem 22. Januar – offiziell in Kraft trat, ist nicht überraschend. Erstens beinhaltet es einen Neuaufguss eines zur Waffe gemachten nationalistischen “Geschichts”-Narrativs, das jeden ernsthaften Historiker vor Fremdscham erröten lassen würde. Darin wird Russland – auch während der Zeit der Sowjetunion – als ein böses Imperium dargestellt, das seit Jahrhunderten “systematisch versucht, die nationale Identität der Ukraine zu zerstören”. Nach den Worten von Selenskij soll das Dekret “die Wahrheit über die historische Vergangenheit im Interesse der ukrainischen Zukunft wiederherstellen”.
Aber das Dokument selbst beinhaltet keine Wahrheit, sondern eine alberne und grobe Karikatur davon. In Wirklichkeit entstand die moderne ukrainische Identität vergleichsweise spät. Die russisch-zaristischen Obrigkeiten hatten versucht, sie einzuschränken und niederzuhalten, während die sowjetische Obrigkeiten versuchten, diese zu formen, indem sie die ukrainische Identität sowohl angriffen als auch eine bestimmte Version davon förderten, während Alternativen bekämpft wurden, vor allem die faschistische Alternative, die sich mit Nazideutschland identifizierte. Wie zu erwarten war, findet über die Politik hinaus die noch größere Komplexität der russisch-ukrainischen Interaktionen im Dekret keine Widerspiegelung – beispielsweise im Bereich der gemischten Identitäten, der Überzeugungen und Kulturen.
Offensichtlich ist das Dekret von Selenskij zur Geschichte der Ukraine nicht der richtige Anlass, nach einer intellektuell angemessenen und nützlichen Diskussion über die Tatsache zu suchen, dass viel mehr Ukrainer für die Sowjetunion und gegen Nazideutschland gekämpft haben als für Nazideutschland und gegen die Sowjetunion. Oder Diskussionen zu führen über Biografien, in denen russische und ukrainische Aspekte untrennbar miteinander verwoben sind wie in der Biografie des Schriftstellers Nikolai Gogol und in noch komplexeren Fällen wie bei den Malern Archip Kuindschi und Iwan Aiwasowski.
Aber bleiben wir fair: Die Ukraine und Russland befinden sich seit fast zwei Jahren offen im Krieg – und zwar in einem großem Umfang. Die Ursachen dieses vermeidbaren Krieges liegen im Wesentlichen in der rücksichtslosen, kurzsichtigen und zynischen Strategie des Westens, die NATO um jeden Preis nach Osten zu erweitern, in der unverzeihlichen Entscheidung der ukrainischen Führung, dem Westen zu erlauben, die Ukraine und ihr Volk als Rammbock zur Schwächung Russlands zu benutzen – und nicht zuletzt in den eklatanten Fehleinschätzungen auf allen Seiten des Konflikts. Vor diesem Hintergrund kann man von einem ukrainischen Präsidenten, selbst von einem gebildeteren als Selenskij, kaum erwarten, dass er eine anspruchsvolle Belehrung über die Unzufriedenheit mit der nationalen Identität von sich geben kann. Glauben wir also nicht der Karikatur, die Selenskij uns anbietet, aber regen wir uns auch nicht darüber auf.
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Interessanter ist ein anderes Detail des Dekrets. Sein zentraler und ausdrücklicher Zweck besteht darin, die nationale Identität und die Rechte der in der Russischen Föderation lebenden Ukrainer zu schützen, einschließlich – aber nicht darauf beschränkt – sechs genannter Regionen. Drei dieser Regionen grenzen an die Ukraine, und die anderen drei hatten bereits vor 2014 an die Ukraine gegrenzt, noch bevor die Krim Teil Russlands wurde. Das Dekret bezeichnet diese Gebiete als “historisch von ethnischen Ukrainern bewohnt”. Die Liste der zu ergreifenden Maßnahmen ist vorhersehbar und ehrlich gesagt nicht wirklich interessant. Es handelt sich, wie man es erwarten würde, um eine Mischung aus Belehrung, internationaler Lobbyarbeit und Instrumentalisierung von Akademikern und Experten, was wiederum eine besondere Mission für jene Historiker anbietet, die sich gerne als Fußsoldaten im Informationskrieg einsetzen lassen.
Der Ukrainische Weltkongress, die Akademie der Wissenschaften der Ukraine und das Außenministerium sind gemäß dem Dekret beispielsweise alle damit beauftragt, ihren Beitrag zu einer “wahrheitsgemäßen Geschichtsinterpretation” zu leisten. Genau dies wird im Dekret angekündigt – ganz ohne Ironie. Dazu ein Tipp von einem Profi: Die historische Wahrheit offenbart sich, soweit sie gefunden werden kann, nie durch einen Regierungserlass.
Von größerem Interesse ist jedoch die Frage, was dieses Dekret in Tat und Wahrheit bewirken soll. Es ist schließlich ein seltsames Dokument. Das Regime von Selenskij steht vor einer schwerwiegenden, möglicherweise tödlichen Kappung westlicher Unterstützung. Die Lage an der Front – man denke an Awdejewka, die entscheidende Festungsstadt in der Ostukraine, die praktisch vor der kompletten Einnahme durch Russland steht – ist dermaßen prekär, dass der im Westen übliche Euphemismus einer “Pattsituation” einfach zu einem albernen Scherz geworden ist. So sieht eine Pattsituation nicht aus. So sieht es aus, kurz bevor der Verlierer vor dem Verlieren steht. Unterdessen hat Moskau keinerlei Eile signalisiert, einen Waffenstillstand anzustreben, insbesondere nicht nach den jüngsten ukrainischen Angriffen auf russisches Territorium, die zahlreiche zivile Opfer forderten.
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Zwar wird im Dekret von Selenskij keine direkten Ansprüche auf russisches Territorium erhoben. Dennoch impliziert es natürlich die Möglichkeit solcher Ansprüche. Dies scheint ein seltsamer Moment zu sein, um den Wetteinsatz in diesem Krieg auf diese Weise zu erhöhen. Hatte Selenskij das Gefühl, dass er zum Tag der ukrainischen Einheit, dem 22. Januar, seinem Volk etwas Erbauliches anbieten musste? Soll das Dekret bestätigen, dass der Präsident den Krieg fortsetzen will, indem angedeutet wird, dass die Ukraine, so schlimm die Dinge jetzt auch sein mögen, in Zukunft den Spieß umdrehen wird? Wenn ja, dann scheint Selenskij ein riskantes Spiel zu spielen.
Bei den Ukrainern im Ausland, insbesondere in der sogenannten “Diaspora”, könnte eine solche Symbolik durchaus immer noch gut ankommen – und vielleicht wurde deshalb der Ukrainische Weltkongress im Dekret gesondert erwähnt. In diesem Zusammenhang war es auch interessant, eine öffentliche Ansprache Selenskijs anlässlich des Tages der Einheit zu verfolgen. Inszeniert im charakteristischen Stil der hohen Bühnenkunst – komplett mit einer dramatischen Partitur, die aus einem Hollywood-Melodrama zu stammen scheint –, gipfelte sie in einer langen Sequenz, in der die Ukrainer im Ausland im Mittelpunkt standen. Aber die Ukrainer, die sich tatsächlich in der Ukraine aufhalten, könnten sich von dieser Theatereinlage entfremdet fühlen. Für sie könnte dieses Dekret zu diesem Zeitpunkt wie eine Extravaganz wirken oder schlimmer noch: als eine Offenbarung oder sogar Bestätigung, dass Selenskij nicht länger an der Realität festhält.
Was aber, wenn die Motive hinter dem Dekret komplizierter sind? Könnte es ein Versuch sein, ein Verhandlungselement für eine künftige Einigung mit Russland zu schaffen, wenn auch auf schwachen Beinen, aber vielleicht besser als gar nichts? Wenn dies der Fall ist, wird es höchstwahrscheinlich als Zeichen der Verzweiflung interpretiert werden, als ein Festhalten an Strohhalmen. Denn es ist schwer zu erkennen, warum zukünftige russische Unterhändler sich einen Deut darum kümmern sollten. Wenn Selenskij und sein Umfeld wirklich immer noch daran glauben, dass eine weitere narrative Offensive eine echte Niederlagen auf einem echten Schlachtfeld kompensieren kann, dann haben sie offensichtlich nichts dazugelernt.
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Es gibt jedoch noch eine andere Möglichkeit, und diese ist die beunruhigendste. Man erinnere sich daran, dass viele in der Ukraine und im Ausland kurz vor der groß angelegten Eskalation Ende Februar 2022 nicht damit rechneten, dass die Ukraine lange kämpfen und durchhalten könnte. Vor diesem Hintergrund gab es aus den USA Signale, dass einem möglichen schnellen russischen Sieg ein Übergang zum Aufstand folgen würde.
Das war zwar eine schreckliche Idee, aber sie wurde nie begraben. Während der Großteil des Krieges bisher eher konventionell verlief, als Zusammenstoß von konventionellen Armeen, kam es auch zu Akten der Infiltration und der Sabotage sowie zu terroristischen Mordanschlägen. Da der Krieg für die Ukraine schlecht verläuft, müssen einige verantwortungslose Strategen sowohl in Washington als auch in Kiew einen Plan B in Betracht ziehen – nämlich einen Sieg Russlands mit dem Versuch zu beantworten, einen ausgedehnten Guerillakrieg innerhalb der Russischen Föderation auszulösen.
Somit haben die bisher durchgeführten Guerillaoperationen eines mit dem seltsamem Dekret von Selenskij gemeinsam: Angriffe auf Gebiete innerhalb Russlands. Es mag weit hergeholt erscheinen und liegt durchaus im Bereich der Spekulation, aber wir sollten die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Selenskij andeuten wollte, dass die Ukrainer, die sich innerhalb Russlands aufhalten, zu einem Aktivposten in dieser Art von Kriegführung werden könnten. Wenn ja, dann wäre die wahre Absicht hinter dem Dekret, Paranoia in Russland zu fördern. Und die beste Antwort darauf wäre, es völlig zu ignorieren.
Aus dem Englischen.
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul und befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.
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