Meinung

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

Quelle: www.globallookpress.com © Fabian Sommer/dpaPolizeipräsenz vor der Friedrich-Bergius-Schule, 16.01.2025

Von Dagmar Henn

Es ist nicht das erste Mal, dass die Friedrich-Bergius-Schule in Friedenau in den Schlagzeilen steht. Im vergangenen November war es ein Brandbrief des Lehrerkollegiums, der für öffentliche Aufmerksamkeit sorgte. Nun war es ein großer Polizeieinsatz, der offenbar durch den Angriff einer Gruppe von einer anderen Schule auf Bergius-Schüler ausgelöst wurde ‒ ein Angriff, bei dem Berichten zufolge Baseballschläger und Schlagringe mitgebracht wurden. Da der Neuntklässler, dem dieser Angriff eigentlich galt, nicht anwesend war, wurde daraufhin ein Siebtklässler bis in einen nahegelegenen Supermarkt verfolgt und dort verprügelt. Den Donnerstag begann die Schule dann unter Polizeibewachung, und auch der Supermarkt hat Wachen aufgestellt.

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

Familienministerium: Zahl unbegleiteter ausländischer Kinder mehr als verdoppelt

Das sind Zustände, die sehr an Bilder erinnern, die vor zwanzig Jahren aus US-amerikanischen Problemschulen zu sehen waren. Dabei galt gerade diese Schule noch vor wenigen Jahren als vorbildhaft ‒ der damalige Direktor war zwar auf der einen Seite sehr streng, was die Disziplin betraf, auf der anderen aber durchaus kreativ. So gab es einen Kooperationsvertrag mit einem Orchester, das regelmäßig in der Mensa der Schule probte. Inzwischen ist der damalige Direktor in Rente, nachdem er seine Dienstzeit bereits ‒ gegen den anfänglichen Widerstand der rotgrünen Schulverwaltung ‒ verlängert hatte. Aber der Elternbeiratsvorsitzende hält auch die Nachfolgerin für sehr kompetent.

Wenn man allerdings genauer wissen will, wo die Wurzeln der Probleme liegen, die die Schule jetzt offenkundig überwältigt haben, muss man sich einen alten Beitrag des rbb vom November ansehen. Denn die aktuellen Berichte orakeln nur irgendwie herum. Es seien viele Kinder “aus bildungsfernen Familien” an der Schule, es habe einen Drohbrief auf Arabisch gegeben, und es gebe Schüler, die kein Deutsch sprächen.

Der rbb-Bericht war da noch deutlicher: ein Migrationsanteil von durchschnittlich 85 Prozent, dabei im Minimum 57 Prozent, im Maximum 100 Prozent in der Klasse. Das erstaunt ein wenig, da Friedenau lange Zeit als gutbürgerliches Viertel einen für Berlin unterdurchschnittlichen Ausländeranteil aufwies. Aber die Stichworte “kein Deutsch”, “Arabisch”, “bildungsfern” legen nahe, dass ein großer Teil dieser Jugendlichen, die dort die Schulklassen 7 bis 10 besuchen, nach 2015 nach Deutschland gekommen sind ‒ wenn nicht erst noch in viel jüngerer Zeit.

Ständige Bedrohungen von Lehrkräften, Mobbing und Gewalt wurden schon im Brandbrief beklagt. Die Reaktion der Schulverwaltung benennt der Elternsprecher: “Es habe für die Lehrer Coaching und Supervision gegeben.” Das ist in etwa so sinnvoll, wie einer verprügelten Ehefrau einen Vortrag über die Nachfolge Christi zu halten, also gar nicht. Auch gegen zu wenig Personal helfen keine Vorträge. Ganz zu schweigen von einem reizenden Detail, das der rbb-Bericht bereits benennt: Die Schule hat keine Turnhalle mehr. Das heißt, sie hat zwar an sich eine Turnhalle auf dem Gelände, diese wurde aber einer anderen Schule zur Nutzung zugewiesen.

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

WSI: Mehr als jeder zehnte Deutsche lebt in “strenger Armut”

Was keine Lappalie ist. Denn wenn man feststellt, dass die Schüler keine Disziplin haben, weil sie den Wert der Disziplin nicht verstehen, gibt es einige Tätigkeiten, die dabei helfen, das zu lernen. Sport, das Spielen eines Instruments, handwerkliche Arbeiten, alles, wobei man selbst praktisch erfahren kann, dass Geduld und Aufmerksamkeit unverzichtbar sind. Und alles Dinge, für die in der Regel weder Geld noch Zeit vorhanden ist. Dumm gelaufen, könnte man sagen.

Da gibt es viele Kleinigkeiten, die für Chaos sorgen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zum Beispiel, die oft deutlich älter sind, als sie angeben, also Männer unter Kindern. Derartige Altersangaben werden nicht mehr überprüft, weil die Röntgenaufnahmen, die dafür früher gemacht wurden, nicht zulässig sind ‒ weil der radiologischen Belastung kein medizinischer Nutzen gegenübersteht. Allerdings gibt es längst die Möglichkeit, das Alter durch Telomerlängenmessung zu bestimmen, eine vollkommen nichtinvasive Technik, für die nur genetisches Material gebraucht wird. Das passiert aber nicht.

Siebte bis zehnte Klasse, das ist der Höhepunkt der Pubertät. Genau das Alter, in dem Jungen nach männlichen Vorbildern suchen, und wenn es da kein vernünftiges Angebot gibt, dann wird das eben der größte Rüpel. Weshalb dazwischengesprenkelte Erwachsene gerade in dieser Phase verheerend wirken.

Natürlich kommen noch ganz andere Faktoren hinzu. Schließlich ist die Idee, Kinder, die gar kein Deutsch können, in die Regelschule zu stopfen, nicht wirklich zielführend. Vor allem nicht, wenn es da noch viele andere gibt, die ihre Muttersprache sprechen ‒ Kinder wollen kommunizieren, mit ihresgleichen, aber Deutsch gibt es nur als die Sprache der fremden Autorität. Von Lehrern, die eigentlich einmal gelernt haben, Mathematik oder Geschichte zu unterrichten, aber nicht Deutsch.

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

Schultest: “Dramatisch schlechte” Ergebnisse bei Dritt- und Achtklässlern in Berlin

Die Bergius-Schule ist als integrierte Sekundarschule, also die spezifisch Berliner Verschmelzung von Haupt- und Realschule, ohnehin die Resterampe, die Schulform, in der sich alle sammeln, die es aufs Gymnasium nicht geschafft haben. Berlin ist allerdings eine Verwaltungsstadt: Das verarbeitende Gewerbe hat nach den statistischen Daten von 2023 nur 109.000 Beschäftigte, während öffentliche Dienstleister, Erziehung und Gesundheit mit 643.500 Personen ein Vielfaches beschäftigen. Doch für die meisten Ausbildungsberufe in Handel und Verwaltung ist inzwischen ein Abitur Voraussetzung. Schlechte Karten also für jene, die in einer Industriestadt durchaus eine klassische Facharbeiterausbildung machen könnten. Ohne Industrie gibt es auch diese Ausbildungen nicht, und die Schüler an den integrierten Sekundarschulen wissen, welche Aussichten sie haben.

Der Prozentanteil armer Schüler ‒ gekennzeichnet als “von der Zahlung des Eigenanteils bei Lernmitteln befreit” in der Berliner Schulstatistik ‒ liegt im gesamten Bezirk Tempelhof-Schöneberg, zu dem Friedenau gehört, an den integrierten Sekundarschulen bei 38,4 Prozent. Das wird noch von Kreuzberg, Neukölln, Marzahn und Mitte übertroffen, liegt aber in der oberen Hälfte. An der Friedrich-Bergius-Schule soll es mehr als jeder Zweite sein.

Es ist kein Wunder, dass die ohnehin schon gehäuften Probleme der deutschen Gesellschaft da besonders deutlich aufschlagen. Was nur zum Teil damit zu tun hat, dass es um migrantische Jugendliche geht. Die ganze deutsche Gesellschaft hat ein Trauma von der Corona-Gefangenschaft. Aber wie muss das erst in Notunterkünften gewesen sein, dicht gedrängt, ohne Bewegungsfreiheit? Wenn schon massenhaft deutsche Jugendliche aus wohlhabenden Familien nach wie vor unter den Folgen leiden, wie sehen sie dann erst aus, wenn noch dazu Geld, Raum und vielfach sogar das Gefühl, zu Hause zu sein, fehlen? Selbst gute und lernwillige Schüler sind abgestürzt oder haben das Interesse verloren. Bei jenen, deren Interesse ohnehin schwer zu wecken ist, heißt das dann: zurück auf null.

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

Studie: Lese- und Rechenkompetenz Erwachsener in Industrieländern nimmt ab

Man spricht nicht gern darüber, dass solche Entwicklungen wie die Friedenauer Jagdszenen etwas mit Migration zu tun haben. Aber diese Art der Heuchelei hat nichts damit zu tun, nur ja keine Vorurteile gegen Migranten aufkommen zu lassen ‒ man kann in jeder Sprache und jeder Kultur ein anständiger Mensch sein. Oder nicht. Nein, es geht eher darum, nur nicht darüber nachdenken zu müssen, was im Land verkehrt läuft. Sprüche darüber zu machen, wie toll bunt die Schulen seien, kostet schließlich kein Geld und keinen Arbeitseinsatz. Um diesen Jugendlichen dabei zu helfen, wirklich zu anständigen Menschen zu werden, bräuchte es aber nicht nur Geld und Personal, sondern auch noch eine grundsätzliche Überarbeitung des ganzen Lehrplans. Und vor allem eine Zukunftsperspektive.

Diejenigen, die es für einen Teil der Lösung halten, nicht zu benennen, dass da migrantische Jungen völlig entgleisen, sitzen selbst im Trockenen, auf einigermaßen gut bezahlten Stellen, und sind sehr geübt darin, die Augen vor dem Niedergang des Landes zu verschließen. Mehr noch, sie würden ihn vehement abstreiten. Ist doch alles wunderbar in diesem besten Deutschland aller Zeiten.

Im großen Vorbild USA funktionierte die Integration von Einwanderern, solange die Wirtschaft funktionierte, und zwar nicht die Finanzwirtschaft, sondern die ganz handfeste, reale Industrie. Sobald das nicht mehr gegeben war, schieden sich die Einwanderer in zwei Gruppen ‒ die Akademiker, die ohnehin bereits angepasst waren, und die Armen, die nur noch ohne Aussicht auf Besserung in den Armutsquartieren gestapelt wurden.

Genau das passiert jetzt auch in Deutschland, und die Friedrich-Bergius-Schule ist nur ein Alarmsignal für eine Entwicklung, die auch in all jenen Orten folgen wird, in denen jetzt gerade die deutsche Industriegesellschaft stirbt. Es gibt viele Tricks und Kniffe, die die Lage etwas verbessern können, von einer rigideren Durchsetzung von Regeln über getrennte Sprachklassen (es ist kein wirklicher Verlust, wenn Jugendliche arabische Lyrik lesen statt deutscher, aber es ist ein Verlust, wenn sie gar keine Gedichte kennen) bis hin zu mehr Sport, Musikunterricht und Handwerk, aber das bräuchte Personal und Geld, was es nicht gibt, weil Panzer gerade wichtiger sind.

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

Jagdszenen in Friedenau ‒ eine Berliner Schule und ihre unaussprechlichen Probleme

Analyse Depressionen, Essstörungen, Impfschäden: Kinder zahlten hohen Preis für die Corona-Politik

Aber nichts, rein gar nichts davon kann die fehlende Hoffnung ersetzen, kann aus einer deutschen Gesellschaft, die wirtschaftlich, geistig und kulturell im Abstieg begriffen ist, die sich selbst schon nicht mehr kennt, einen Ort machen, der eine Heimat bietet, den Eigenen oder den Fremden. Was der tragischste Aspekt solcher Augenblicke wie der Friedenauer Jagdszenen ist: dass die Unbehaustheit der Hinzugekommenen verschwiegen wird, um den Blick von der Unbehaustheit der Dagewesenen abzulenken. Das gilt nicht nur im Wortsinne, auf das Stichwort Wohnungsnot bezogen, sondern ebenso sehr in Bezug auf Erwartungen, Wünsche, ja, sogar auf Dinge, die im sozialen Leben einmal selbstverständlich waren, das Gefühl einer Verbundenheit mit Land und Geschichte und einer Verantwortlichkeit dafür.

Quelle

Leave a Reply

Your email address will not be published.

Back to top button