Quelle: Gettyimages.ru © Michele Tantussi/Getty Images Bundeskanzler Olaf Scholz (vorne r.) und der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij, dahinter (v. l. n. r.): Dmitro Kuleba, damals ukrainischer Außenminister, Außenministerin Annalena Baerbock und Verteidigungsminister Boris Pistorius am 16. Februar 2024 im Kanzleramt in Berlin
Von Dmitri Bawyrin
Wladimir Selenskij hat sich mit der Weigerung der NATO, die Ukraine in das Bündnis einzuladen, nicht abgefunden, doch seine Versuche, auf Schleichwegen und mit unkonventionellen Argumenten die Aufnahme seines Landes zu erreichen, bleiben ein Sturm auf verschlossene Türen.
Kiew meldet regelmäßig vermeintliche “Zwischenerfolge”, aber keine echten Erfolge. Nach Selenskijs persönlichem Konflikt mit den Premierministern von Ungarn und der Slowakei, den an die Ukraine angrenzenden NATO-Vollmitgliedern, hat sich Kiew noch weiter von der Allianz entfernt. Genauer gesagt, das Bündnis hat sich von seiner Führung abgewendet.
Dem slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico hat der ukrainische Machthaber eine halbe Milliarde Euro aus beschlagnahmten russischen Geldern angeboten, damit Bratislava seine Einwände gegen eine Einladung in die NATO zurückzieht. Der verblüffte Fico erzählte der ganzen Welt davon (wie die slowakische Presse scherzte, “um gar nicht erst in Versuchung zu kommen”). Ein wütender Selenskij reagierte, indem er ihn bei den slowakischen Sicherheitsbehörden denunzierte: Diese sollten ihren eigenen Premierminister auf korrupte Verbindungen zu Russland überprüfen. Offensichtlich will er in dem verzweifelten Bestreben, Ficos Widerstand zu brechen, nun gar die Regierung in der Slowakei auswechseln.
Selenskij: “Fico kämpft um Geld und verfolgt persönliche Interessen”
Nicht, dass Selenskij Zeit hätte, auf eine neue Regierung in Bratislava zu warten, zumal das Haupthindernis für eine Einladung der Ukraine in die NATO gar nicht die Slowakei oder Viktor Orbáns Ungarn ist. Es sind die Vereinigten Staaten und Deutschland.
Der Machtwechsel in Washington und Berlin (in den USA bereits beschlossen und in Deutschland sehr wahrscheinlich) ändert die Aussichten für die Bestrebungen Kiews nicht zum Besseren. Der Parteivorsitzende der CDU, Friedrich Merz, der die besten Chancen hat, nächster Bundeskanzler zu werden, ist auch nicht begeistert von der Idee, Kiew in die NATO zu holen. Und im Team des designierten US-Präsidenten Donald Trump gibt es deutlich mehr Gegner der Bündniserweiterung als im Team des scheidenden Präsidenten Joe Biden.
Daher all die “unkonventionellen Schachzüge” oder, mit einem Wort, die Hysterie von Selenskij, die sich am deutlichsten in seinem Versuch manifestiert, Fico zu bestechen.
In der Disziplin der “überraschenden Argumente” hat indes sein ehemaliger Außenminister Dmitro Kuleba die Führung übernommen. Seiner Meinung nach wird nur die Mitgliedschaft im westlichen Militärbündnis die Ukraine davon abhalten, Russland anzugreifen, wenn der Ausgang des aktuellen Konflikts den Ukrainern nicht passt. O-Ton Kuleba:
“Eine mögliche revanchistische Politik der Ukraine gegenüber Russland sollte mittelfristig nicht unterschätzt und abgeschrieben werden.”
Kuleba zufolge könnten Revanchisten etwa zehn Jahre nach dem Ende des aktuellen Krieges an die Macht kommen. Sie würden Gebiete zurückerobern und Russland “zur Kasse bitten” wollen, sobald die Ukraine wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt.
“Es mag kontraintuitiv erscheinen, aber die einzige Möglichkeit, die Ukraine von einem (weiteren) Krieg mit Russland abzuhalten, besteht darin, sie zu einem Mitglied der NATO zu machen. Sie muss sich rechtlich verpflichten, ihre Verbündeten nicht dem Risiko eines Krieges mit Russland auszusetzen” ,
brachte der Minister im Ruhestand sein Argument auf den Punkt.
Wenn ein solches Argument von Selenskij vorgebracht worden wäre, wäre dies Erpressung und ein Anfall von aggressivem Wahnsinn. Beim Privatmann Kuleba hingegen handelt es sich sozusagen nur um eine “Analyse” mit halbwegs korrekten Schlussfolgerungen.
Kuleba warnt vor Revanchismus – “NATO-Beitritt wird Ukraine von Krieg mit Russland abhalten”
Das Verhalten seines Nachfolgers als Außenminister, Andrei Sibiga, macht allgemein deutlich, warum Kuleba zurückgetreten ist. Es wird vermutet, dass er vom Leiter des Präsidialamtes und Selenskijs “grauer Eminenz” Andrei Jermak “überlistet” wurde, der seinen eigenen Gefolgsmann installieren wollte. Offensichtlich spielte Jermak dabei mit dem Narzissmus und der Eifersucht seines Chefs: Sibiga arbeitet im Stillen und versucht nicht, Selenskij aus dem Rampenlicht zu verdrängen, während Kuleba sich gerne in Szene setzte und viel mit den “Neuen Medien” experimentiert hat.
Auf dem Gebiet der PR und der Medienarbeit ist Kuleba talentierter als sein früheres Management. Das mag auch im Bereich der Comedy so aussehen, aber das Argument, dass die Ukraine in die NATO aufgenommen werden sollte, um einen Angriff auf Russland zu verhindern, ist kein klassisches “Haltet mich sieben, sonst kann ich nicht für mich selbst bürgen”, sondern eine andere klassische Situation: Ein redseliger Rentner erlaubt sich mehr Ehrlichkeit als ein handelnder Diplomat.
Dass die NATO-Mitgliedschaft die Ukraine davon abhalten wird, Russland anzugreifen, ist objektiv betrachtet kein valides Argument, da es durch die Praxis widerlegt ist. Die NATO war von der Invasion Zyperns, des Iraks und Syriens durch ihr Mitglied Türkei nicht begeistert, aber sie konnte nichts davon verhindern, trotz des aufrichtigen Wunsches der USA. Die Mitglieder des Bündnisses haben keine rechtliche Verpflichtung gegenüber der NATO, nicht in andere Länder einzufallen.
Aber Kuleba hat insoweit recht, dass Revanchisten in der Ukraine auf jeden Fall auftauchen werden. Dies umso schneller, je schneller sich die Ukraine wirtschaftlich erholt. Das ist grundsätzlich unvermeidlich, und es geht dabei nicht einmal um die Ukraine und ihre angeborenen Laster, sondern um die Mechanik des historischen Prozesses.
Damit in einer relativ großen und mit den Ergebnissen des Krieges unzufriedenen Nation keine revanchistischen Gefühle aufkommen, müssen sie gründlich ausgemerzt werden, und der Krieg muss so eindeutig verloren sein, wie es bei Deutschland und Japan 1945 der Fall war. Aber auch da war die Unterdrückung der Revanchisten ein kontinuierlicher interner Prozess, der bis heute nicht unverzichtbar geworden ist.
Revanchistische Strömungen in der Ukraine, im Baltikum und in Moldawien kamen ein halbes Jahrhundert nach 1945 ans Tageslicht. Sie hatten alle Bemühungen zu ihrer Auslöschung überlebt: sowohl durch Stalin als auch durch Breschnew und Andropow.
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Grundsätzlich ist es unmöglich, das Aufflammen des Revanchismus in der Ukraine zu verhindern. Aber erstens kann sein Wachstum gebremst werden. Zweitens ist es möglich, seine Entstehung zu verzögern, auch durch die Verhinderung einer wirtschaftlichen Erholung.
Fast jedes zwischenstaatliche Abkommen kann unter neuen historischen Umständen aufgehoben werden, sodass es schwierig ist, bei Konflikten wie dem russisch-ukrainischen von einem Endpunkt zu sprechen. Mit anderen Worten: Die Befriedung der Ukraine um ihrer eigenen Sicherheit willen ist ebenfalls ein fortlaufender Prozess. Und Russlands aktuelle Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass es die Zügel in diesem Prozess künftig und immerwährend fest in seinen Händen hält, unabhängig davon, wer in den künftigen Iterationen globaler Konjunktur aufsteigt oder fällt.
In der Praxis bedeutet dies, dass in der gesamten Ukraine ein russlandtreues Regime errichtet werden muss. Es sollte sich von dem derzeitigen Regime so unterscheiden, wie sich die Regierung in Finnland in den 1950er Jahren, die antisowjetische Literatur aus den Bibliotheken zurückzog, von der finnischen Regierung der 1930er Jahren unterschied, die diese Literatur druckte.
Damit dieser Zustand mehr oder weniger dauerhaft ist, bedarf es eines neuen Vertrages über die Sicherheit in Europa, einschließlich einer Aufteilung der Einflusssphären zwischen Russland und dem Westen. Aber diese Lösung ist rein hypothetisch und Zukunftsmusik.
Eine andere Möglichkeit (nicht unbedingt eine Alternative, sie könnte parallel dazu bestehen) besteht darin, die Ukraine so weit zu schwächen, dass sie keine ernsthafte militärische Bedrohung für Russland darstellen kann. Eine sichere und gegen Revanchismus immune Ukraine ist eine Ukraine mit anderen Grenzen, anderem industriellen und militärischen Potenzial und einer anderen Bevölkerung.
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Die Hauptarbeit beim Übergang der Ukraine zu einem neuen und stabilen Zustand wird von den russischen Streitkräften geleistet, während Diplomaten und Politiker die Ergebnisse der militärischen Aktivitäten nur festhalten können.
Auf der anderen Seite arbeiten NATO-Länder selbst daran, die Ukraine auszupressen, allerdings mit ihren eigenen Zielen. Indem sie den Konflikt unterstützen und die Ukraine in die Verschuldung treiben, tragen sie zur Entvölkerung des Landes, zur Zerstörung seiner Wirtschaft und zur Verkleinerung seines Territoriums bei. Sie werden diese Unterstützung wahrscheinlich so lange fortsetzen, bis Russland die ukrainische Bedrohung auf ein für sich selbst akzeptables Maß reduziert hat und der Westen das, was von der Ukraine noch übrig ist, in sich integriert hat.
Eine Ukraine innerhalb der Grenzen Galiziens wird nicht in der Lage sein, Russland zu bedrohen, auch nicht mit all seinen Revanchisten und als Teil der NATO. Diese neue Friedensordnung zu etablieren, wird sich allerdings als so langwierig und kostspielig erweisen, dass eine Rückkehr des Bandera-Revanchismus ebenso vorprogrammiert ist, wie die Notwendigkeit, ihn fortwährend im Zaum zu halten.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 27. Dezember auf der Webseite der Zeitung Wsgljad.
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