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Witt ist jedenfalls für die aktuelle Berichterstattung ein Held. In seiner Einlassung zur Regenbogenfahne schrieb er laut FAZ , er habe “seine erste Regenbogenfahne in Form eines Pins als Fünfzehnjähriger geschenkt bekommen. Das seien bewegende Zeiten gewesen damals, als homosexuelle Handlungen unter Männern noch verfolgt und geahndet werden konnten.”
Witt wurde 1978 geboren, in Neustrelitz. In der DDR war der berüchtigte Paragraf 175 Strafgesetzbuch, auf den er sich in dieser Aussage bezieht, bereits seit 1968 abgeschafft. Selbst im Westen wurde er 1989 nicht mehr umgesetzt. Weil es im Annexionsgebiet nicht durchsetzbar gewesen wäre, zu diesem von den Nazis verschärften Paragrafen zurückzukehren, wurde er 1994 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Witt jedenfalls hatte nie Teil an den Auseinandersetzungen, die rund um diesen Paragrafen geführt wurden, und war in keiner Hinsicht durch eine darauf beruhende Verfolgung bedroht. So viel zu seiner persönlichen Ehrlichkeit.
Mittlerweile gibt es eine Online-Petition, die die Stadtvertretung auffordert, die Regenbogenflagge wieder zuzulassen. Ein unlauteres Spiel: Auch Mecklenburg-Vorpommern kennt die Möglichkeit des Bürgerentscheids, der zu dieser Frage jederzeit möglich wäre. Allerdings könnten an einem Bürgerentscheid, im Gegensatz zu einer offenen Online-Petition, nur Einwohner Neubrandenburgs teilnehmen, und es ist eher nicht zu erwarten, dass die Mehrheitsverhältnisse in der Einwohnerschaft wesentlich von jenen der gerade erst erfolgten Kommunalwahlen abweichen. Was der Grund dafür sein dürfte, warum eben nicht auf den Straßen Neubrandenburgs Unterschriften für ein Bürgerbegehren gesammelt werden, sondern eine Online-Petition ins Netz gestellt wird.
Die Berichte über Witt und Neubrandenburg quellen über vor Verständnis, und der Grundtenor lautet, Witt stünde für Demokratie und Toleranz, und die Stadtverordneten, die gegen die Regenbogenfahne entschieden, stünden für das Gegenteil. Allerdings steht deren Entscheidung über der des Oberbürgermeisters, und er ist verpflichtet, das auszuführen, was die Gemeindevertreter entscheiden ‒ so funktioniert Demokratie auf kommunaler Ebene. Aber nicht nur das.
Im Grunde belegt Witt mit seinem Rücktritt, dass er das Amt des Bürgermeisters nicht wirklich verstanden hat. Denn er kann gern seine persönliche Geschichte erzählen, aber als Privatperson Silvio Witt. Als Bürgermeister ist er jedoch für alle Bürger der Gemeinde zuständig, nicht nur für die homosexuellen oder jene, die all seine Überzeugungen teilen. Wenn er sich beleidigt zurückzieht, weil die Stadt beschlossen hat, ein Symbol, das ihm persönlich ‒ privat ‒ etwas bedeutet, nicht mehr mit dem gleichen Rang wie die Landesfahne und die Stadtflagge zu versehen, zeigt das, dass er seine Position als Bürgermeister nicht als demokratischen Auftrag versteht (den ihm nur die Stadtverordneten erteilen können), sondern als eine Art persönlicher Spielwiese, die ihm als Provinzfürsten zur Verfügung steht.
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Das Rätsel an der ganzen Geschichte ist jedoch, warum Witt zwar zurücktritt, aber erst zum 1. Mai des kommenden Jahres. Es sind zwar Fristen einzuhalten, die belaufen sich jedoch nicht auf sieben Monate. Wahlvorschläge für das Amt des Bürgermeisters müssen beispielsweise 75 Tage vor dem Wahltag eingereicht werden ‒ ein realistischer Zeitraum für die Ansetzung von Bürgermeisterwahlen sind also etwa 105 Tage oder 3,5 Monate.
Der Bürgermeister von Neubrandenburg ist hauptamtlich, nicht ehrenamtlich. Der Pensionsanspruch ist es jedenfalls nicht ‒ nach einer Gesetzesänderung vom Mai dieses Jahres können hauptamtliche Bürgermeister “in MV künftig schon nach einer Amtsperiode Pension erhalten, wenn sie das 45. Lebensjahr erreicht haben”. Vor dieser Änderung waren dafür zwei Amtsperioden erforderlich. Witt ist gerade 45 und hat 2022 die zweite Amtsperiode begonnen. Damals wurde er noch mit großer Mehrheit wiedergewählt.
Vielleicht ist ja trotz der Vehemenz, mit der sich die deutschen Medienvertreter schützend vor die Regenbogenfahne werfen, irgendjemandem noch möglich, dieses Detail zu klären. Durchaus denkbar, dass sich darin eine weitere Information verbirgt, die Frage betreffend, wer in Neubrandenburg auf welche Weise tatsächlich für Demokratie steht. Die Vermutung, Witt trete aus persönlicher Betroffenheit ab, weil seine Fahne nicht mehr gehisst wird, wird jedenfalls durch die Vorlaufzeit bis zu seinem tatsächlichen Rücktritt sehr infrage gestellt.
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