Analyse
Russische Armee geht in die Offensive: Streitkräfte stoßen ins Stadtgebiet von Ugledar vor
Auch der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij hat versucht, das nationale und internationale Publikum zu beruhigen. Er behauptet, dass sein Militär die russischen Pläne zur Ausdünnung der ukrainischen Verteidigung sehr wohl versteht, und er hat versprochen, dass andere wichtige Abschnitte der Front, beispielsweise in der Stadt Tschassow Jar im Donbass, nicht aufgegeben werden sollen. Aber was, wenn das gar keine Rolle spielt, ob Selenskij die russische Strategie durchschaut oder nicht? In Wirklichkeit bleibt ihm möglicherweise nur die Wahl zwischen den Erfolgen von Russland und den Verlusten der Ukraine. Das ist die Quintessenz einer Überdehnung. Laut CNN hat das ukrainische Militär bereits “klare Andeutungen ” für weitere Rückzüge an der Donbass-Front gemacht.
Interessanter als dieses rationale Verständnis für eine sich verschärfende Krise auf dem Schlachtfeld sind Reaktionen, die sowohl offener als auch weniger optimistisch sind. Zum einen wird der russische Vormarsch nicht nur zu einer ukrainischen (und westlichen) Niederlage, sondern auch zu einem ukrainischen Skandal, über den der Westen in nunmehr ungewöhnlich offener Weise berichtet. In der Ukraine hat der rasche und fast widerstandslose Durchmarsch der Russen durch ein Gebiet, das eigentlich aus Befestigungen, Minenfeldern und Fallen bestehen sollte, zu Korruptionsvorwürfen geführt, die man nur als verräterisch bezeichnen kann. Die Ukrainskaja Prawda fragt als eigentlich traditioneller Verfechter der prowestlichen Stimmung und der patriotischen Mobilmachungsrhetorik, wo denn die Befestigungen sind. Sie weist darauf hin, dass die regionalen Behörden Millionen an fiktive Unternehmen gezahlt hätten, um etwas zu bauen, das offensichtlich entweder nicht vorhanden oder so mangelhaft ist, dass es genauso gut hätte lassen können.
Im Westen hat nicht zuletzt die BBC den Kommandeur Denis Jaroslawski einer ukrainischen Spezialaufklärungseinheit zu Wort kommen lassen, der sagt, er und seine Männer hätten gesehen, wie die russischen Truppen “einfach hereinspaziert ” seien. Es fehlte nämlich Wichtiges, was sie zumindest hätte aufhalten können. Während ukrainische Beamte “behaupteten, dass Verteidigungsanlagen zu enormen Kosten gebaut würden “, wie die BBC berichtete, kamen zwar die Kosten (und für irgendjemanden auch die Gewinne) zustande, aber die Verteidigungsanlagen nicht. “Entweder war es ein Akt der Fahrlässigkeit oder der Korruption “, schlussfolgerte Jaroslawski. “Es war kein Versagen. Es war ein Verrat. “
Dass die Kriegsanstrengungen der Ukraine sehr unter der enormen Korruption leiden, wäre nur für die besonders Naiven eine Neuigkeit. Das offene Anprangern von Korruption innerhalb und außerhalb der Ukraine deutet jedoch – nicht zum ersten Mal – auf die schwindende Fähigkeit des Selenskij-Regimes hin, die Geschichte entscheidend zu kontrollieren und auch zu gestalten. Die widersprüchlichen Äußerungen vom berüchtigten Kirill Budanow als Chef beim militärischen Geheimdienst der Ukraine zeugen in ähnlicher Weise zumindest von Verwirrung. Auf der einen Seite hat Budanow ein “düsteres Bild ” gezeichnet, wie es die New York Times nannte. In einem Gespräch mit der US-amerikanischen Zeitung beschrieb er die Lage der Ukraine als “am Abgrund ” stehend. Genauer gesagt – und das ist noch wichtiger – ging er sogar so weit, die schlimmste Achillesferse seines Landes offen zu benennen, nämlich den eklatanten Mangel solcher Reserven, die im Falle akuten Drucks an jedem beliebigen Teil der Frontlinie eingesetzt werden könnten. Budanow sagte zwar für die Zukunft eine “Stabilisierung ” voraus, wies aber auch auf Risiken und Beschränkungen hin. In einer Rede, die der General über das ukrainische Fernsehen an sein heimisches Publikum richtete, betonte Budanow jedoch nur die “Stabilisierung ” und versprach, dass die russischen Streitkräfte zumindest “im Prinzip ” bereits eingedämmt seien.
Analyse
Russische Armee findet Schwachstelle in der ukrainischen Verteidigung
Die russische Operation in der Region um Charkow ist eindeutig eine akute Schlacht innerhalb eines fortdauernden Krieges. Es wäre voreilig, die Ergebnisse vorherzusagen, zumindest im Detail. Wenn wir uns jedoch auf die wichtigsten Entwicklungen konzentrieren, sind zwei Dinge sicher: Erstens ergreift man in Moskau die Initiative und behält sie auch. Deshalb sind die russischen Streitkräfte in der Offensive, und deshalb entscheidet man in Moskau über den Sinn und Zweck von Angriffsoperationen, während die Ukraine und der Westen immer mehr nur auf die Reaktion beschränkt sind. Zweitens zeigen sowohl die Ukraine als auch der Westen trotz der mühsam aufrechterhaltenen Fassade von “Optimismus” und “Beharrlichkeit” offen Anzeichen von Nervosität, und zwar von einer Nervosität, die durch den russischen Druck hervorgerufen wird. Das ist im Moment die offensichtlichste Auswirkung der Operation bei Charkow, auch wenn sie vielleicht für manch einen im Verborgenen liegt.
Übersetzt aus dem Englischen
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, er befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.
Quelle