Meinung

Tino Chrupalla bei Lanz: Die Tücken der Staatsräson

Tino Chrupalla bei Lanz: Die Tücken der Staatsräson

Quelle: RT © Screenshot: Mediathek ZDFSendung Markus Lanz vom 7. Dezember 2023

Von Tom J. Wellbrock

Für Deutschland geht Israel über alles, so viel ist sicher. Wer Israel angreift, greift auch “uns Deutsche” an, so stimmen seit dem 7. Oktober Politiker, Medien und Historiker ihr gemeinsames Lied an. Zur letzten Gruppe gehört auch Michael Wolffsohn, der ebenfalls zu Gast bei der gestylten Plaudertasche ohne Moderationserfahrung war. Lanz’ Frage an Chrupalla offenbarte so einiges.

Staatsräson – was war das noch gleich?

Vorweg: Tino Chrupalla reicht nicht an die Souveränität einer Alice Weidel, eines Oskar Lafontaine oder auch eines Hubert Aiwanger heran. Aber “allein gegen alle” machte er dennoch argumentativ eine recht gute Figur. Inhaltlich war die Auseinandersetzung mit den “Perlen” der deutschen Fernsehlandschaft ein Heimspiel für Chrupalla, was allerdings (einmal mehr) auch mit den schwachen Argumenten seiner Gegenspieler zusammenhing.

Nach dem Block über “Migration” und “Fachkräfte”, aus dem Chrupalla auf Augenhöhe seiner Kontrahenten hervorging, war das Thema “Israel” dran, und Lanz fragte:

“Israel ist deutsche Staatsräson. Gilt das auch für Sie, Herr Chrupalla?”

“Das muss man erst mal definieren, was Staatsräson eigentlich heißt.”

“Ja, was ist das für Sie?”

“Ja, das weiß ich eben nicht. Kann mir das jemand erklären? Wurde das irgendwo mal erklärt, was das heißt?”

Chrupallas Frage soll weiter unten beantwortet werden, aber zunächst weiter mit Lanz:

“Ja, wenn Sie uns regelmäßig gucken”, setzte Lanz an, worauf Chrupalla entgegnete: “Ich guck sie nun nicht regelmäßig.”

Nun kam die Sprache kam auf die “Mutter der Staatsräson”, auf Angela Merkel. Chrupalla merkte an, dass die damalige Kanzlerin den Begriff in den Raum gestellt hatte, ohne dass es dazu eine breite Debatte gegeben hätte. Habe die Staatsräson eine militärische Grundlage? Bedeute sie, dass Deutschland Israel mit der Bundeswehr unterstützen müsse? Und wenn ja, wo sei das zu finden, habe das jemand aufgeschrieben?

“Ich frag’ das Sie, Herr Chrupalla”, versuchte es Lanz erneut.
Ja, entgegnete Chrupalla, er wisse es nun einmal nicht. Darauf Lanz:

“Entschuldigung, Sie sind der Chef einer Partei, die gerade in Ostdeutschland bei über 30 Prozent steht …”

“Ja, und?”, wollte Chrupalla wissen.

“Dann müssen Sie doch wissen, was deutsche Staatsräson ist.”

Doch Chrupalla ließ sich nicht in die Ecke drängen. Und so fragte Lanz den Historiker Wolffsohn, ob er helfen könne. Und er konnte. Irgendwie. Oder auch nicht.
Dann sagte Wolffsohn:

“Also, ich kann in diesem Fall die ehemalige Bundeskanzlerin zitieren, und es wundert mich, dass Sie das nicht wissen, Herr Chrupalla”,

was eine ziemliche Verdrehung der Worte Chrupallas war, aber sei’s drum. Der Historiker fuhr fort:

“Also, die Bundeskanzlerin hat jenseits dieses schönen Wortes, das ehrfurchtgebietend ist, klipp und klar gesagt, dass ein – ich zitiere fast wörtlich – Angriff auf Israel einem Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland gleichkäme.”

Und wieder an Chrupalla gewandt:

“Egal, ob’s Ihnen gefällt oder nicht, das war also eine klare Begriffsbestimmung, und diese Begriffsbestimmung halte ich auch für höchst problematisch, sie ist zwar sehr sympathisch, aber sie ist deshalb problematisch, weil … äh, ja, weil Frau Merkel ganz eindeutig ohne Konsultation der NATO-Partner hier Artikel 5 des NATO-Vertrages hat wirksam werden lassen, denn ein Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland – Klammer auf: wäre also auch ein Angriff auf Israel – würde den Bündnisfall hervorrufen, und das heißt, dass auch die Türkei beispielsweise, Ihr neuer Freund Erdogan [was erneut Chrupalla bzw. seinem Parteikollegen Krah galt] … jedenfalls wäre dann für die NATO die Verpflichtung, Israel zur Hilfe zu kommen. Ob das richtig oder falsch ist, ist eine andere Sache. Jedenfalls ist das klar definiert worden, und alles, was ansonsten als – ich muss das schon sagen – als Blabla in Bezug auf die Staatsräson gebraucht wird, ist … ähm … Interpretation.”

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Und so lobte Wolffsohn im Nachfolgenden Robert Habecks Interpretation des Begriffs Staatsräson, die für sein Empfinden sehr sympathisch sei, “ganz konkret realistisch”, aber “wenn wir von der ehemaligen Bundeskanzlerin sprechen, war es ein Versprechen, das im wahrsten Sinne des Wortes auf Sand gebaut ist. Denn auch Frau Merkel muss gewusst haben, dass die Bundeswehr auch 2008 in einem desolaten Zustand gewesen ist. Das zu den Fakten.”

Fakten, die beeindrucken. Irgendwie. Oder auch nicht. Florence Gaub jedenfalls, das merkte Lanz noch mit womöglich leuchtenden Augen für die Expertin mit ausgeprägter Russophobie im Blut an, sei der Meinung, so verkürzt könne man das mit dem Bündnisfall nicht sagen, was Wolffsohn wiederum ganz anders sah. Aber lassen wir das.

Und was genau ist das nun, diese Staatsräson?

Sind wir nach Wolffsohns Ausführungen klüger geworden? Das könnte man so sagen, denn wir wissen jetzt, dass die Frage Chrupallas, was genau diese ominöse Staatsräson denn letztlich ist, abschließend nicht beantwortet werden konnte. Wir wissen außerdem, dass laut Wolffsohn Robert Habeck von den “Grünen” angeblich noch die beste Definition des Begriffes liefern konnte, auch wenn der Historiker uns nicht verraten hat, was das konkret bedeutet.

Aber schauen wir doch einfach mal bei der “Bundeszentrale für politische Bildung” (bpb) nach. Dort steht geschrieben:

“Das Prinzip der Staatsräson (der Begriff kommt aus dem Lateinischen: ‘ratio status’ heißt ‘Staatsvernunft’) hatte in früheren Jahrhunderten, als noch Könige und Fürsten über die Staaten herrschten, große Bedeutung. Es besagte, dass die Interessen des Staates über alle anderen Interessen gestellt wurden. Wenn die Staatsmacht der Ansicht war, dass es dem Interesse des Staates dienen würde, konnten Gesetze aufgehoben und sogar die Rechte der einzelnen Menschen missachtet werden. Der Staat stand über allem.”

Nun ja, das ist lange her. Also lesen wir noch weiter:

“In demokratischen Staaten spielt die Staatsräson, wie sie hier beschrieben ist, keine Rolle mehr. In den letzten Jahren haben Terroristen immer wieder versucht, durch Geiselnahmen oder Flugzeugentführungen Staaten zu erpressen. Dann sagen viele Menschen: ‘Die Staatsräson verlangt, auf die Forderungen nicht einzugehen, weil ein Staat nicht erpressbar sein darf.’ Damit ist gemeint, dass es nicht sein darf, dass einzelne Gewalttäter einen Staat zwingen können, Dinge zu tun, die gegen die Gesetze sind.”

Hoppla! Der Eintrag stammt immerhin aus dem Jahr 2023. Und wenn man sich nun noch einmal den ersten Teil der Definition ansieht, kommt man schon ins Grübeln:

“Wenn die Staatsmacht der Ansicht war, dass es dem Interesse des Staates dienen würde, konnten Gesetze aufgehoben und sogar die Rechte der einzelnen Menschen missachtet werden. Der Staat stand über allem.”

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Tut er das nicht heute auch? Orientiert sich der deutsche Staat an den Interessen der Menschen im Land? Die Frage ist rhetorischer Natur, denn genau dies tut er zunehmend immer seltener.

Man denke nur an die Sanktionen gegen Russland, um nur ein Beispiel zu nennen. Baerbock will Russland ruinieren (nach wie vor), nimmt dafür unzählige ukrainische und russische Tote in Kauf und treibt – gemeinsam mit den anderen Freunden der Staatsräson – die heimische Wirtschaft dem Abgrund entgegen. Ist das dann auch Staatsräson, und ist das Interesse des Staates so wichtig, dass die Bevölkerung und deren Interessen keine Rolle mehr spielen?

Der eigentliche Zweck der Staatsräson

Fügen wir den wirren Definitionen aus der oben genannten Lanz-Sendung die Stimme eines Juristen hinzu, nämlich von Hans Decruppe, der Gewerkschafter und Jurist ist. Er sagt zur juristischen Auslegung der Staatsräson:

“Juristisch erklären kann man den Begriff ‘Staatsräson’ nicht, denn er ist völlig substanzlos. Auch wenn er von Juristen in höchsten Staatsämtern – wie Steinmeier und Scholz – verwendet wird. Wie Prof. Ralf Michaels klargestellt hat, steht der Begriff seit seinem Aufkommen in der politischen Theorie der italienischen Renaissance für ein Nützlichkeitsdenken ohne Rücksicht auf Recht und Moral, was mit Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht schwer in Einklang zu bringen ist.”

Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, was mit der Staatsräson bezweckt wird. Auch dazu hat Decruppe eine Idee:

“‘Staatsräson’ ist keine juristische, sondern eine rhetorische und vor allem demagogische Floskel. Vergleichbar mit der Floskel ‘alternativlos’, die Merkel in ihrer Amtszeit politisch geschickt nutzte. Auch dieser Begriff ist inhaltsleer, diente bzw. dient aber der gezielten Einschränkung des politischen Diskurses. Wenn etwas alternativlos ist, dann stellt sich jeder, der trotzdem alternative Vorstellungen formuliert, außerhalb der von höchster staatlicher Stelle vorgegebenen Positionierung. Unter ‘Räson’ versteht man Vernunft oder Einsicht. Und wer sich gegen die ‘Staatsräson’ stellt, ist folglich unvernünftig und politisch uneinsichtig. Er stellt sich quasi gegen die Staatsvernunft. Im Interesse des Staates muss daher jeder, der sich dieser proklamierten Staatsvernunft nicht beugt, bekämpft und gecancelt werden. Der Begriff ist damit nichts anderes als ein manipulatives politisches Instrument, mit dem höchste staatliche Stellen – unter Beifall und mit Unterstützung einer sich selbst zunehmend gleichschaltenden Presse – versuchen, kritische Debatten zu unterdrücken. Mit anderen Worten: Der Gebrauch des Begriffs ‘Staatsräson’ ist in rechtlicher Bewertung ein perfider Versuch, die durch Artikel 5 Abs. 1 des Grundgesetzes geschützte Meinungsfreiheit im Interesse einer ‘Quasi-Staatsmeinung’ einzuhegen.”


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Und genauso stellt es sich heute dar: Einmal mehr gibt es in Deutschland eine (und zwar wirklich nur eine!) zugelassene und akzeptierte Meinung, diesmal verkleidet als “Staatsräson”. Auf diese Weise wird eine differenzierte Sicht auf eine Sachlage – in diesem Fall die Rolle Israels im aktuellen und seit Jahrzehnten bestehenden Konflikt mit Palästina – einfach wegradiert, inoffiziell verboten wegen “Wollen wir nicht”.

Geliebter Totalitarismus

Ja, man muss es sagen, man muss es wiederholen: Wir sind komplett im Orwell-Vokabular angekommen: “Krieg ist Frieden”, “Ukraine ist Demokratie”, “Israel ist Staatsräson”, “Baerbock ist Diplomatie” und “Habeck gleich Wirtschaftskompetenz”.

Und so geht sie weiter dahin, die Meinungsfreiheit, die Möglichkeit, sich individuell seinen Standpunkt zu bilden, ohne mit fatalen Konsequenzen rechnen zu müssen.

Die oben genannte Sendung Lanz verdient übrigens wirklich – insbesondere in der zweiten Hälfte – Aufmerksamkeit. Die Art und Weise, wie sich Wolffsohn an Chrupalla abarbeitet, kann nur als erschreckend und faschistoid bezeichnet werden. Denn er greift den AfD-Chef nicht nur persönlich und weit unterhalb der “zulässigen” Gürtellinie an (wobei Chrupalla sich in die Defensive drängen lässt), sondern Wolfssohn übt auch indirekt – aber doch eindeutig und für jeden spürbar – massiven Druck auf jeden potenziellen Wähler der AfD unter den Zuschauern aus. Unterm Strich schwingt sinngemäß folgende fiktive Botschaft mit:

“Wir hören, was Sie sagen, Herr Chrupalla, Sie sind inkompetent, sie verkürzen Zusammenhänge und belügen aufgrund Ihres Unwissens die Wähler. Wir nehmen das wahr und zur Kenntnis, und die Wähler sollten sich gut überlegen, ob sie Ihnen ihre Stimme geben. Wir haben ein Auge auf Sie, wir beobachten Sie, Chrupalla, Big Brother is watching you, und möge jeder Wähler sich im Klaren darüber sein, dass wir auch ihn beobachten und – wenn nötig – zur Rechenschaft ziehen werden.”

Das ist selbstredend kein wörtliches Zitat, aber wer sich diesen Historiker in der zweiten Hälfte der Sendung anhört, kann nur zum Schluss kommen, dass hier ein manipulativer Propagandist am Werk ist, der bereit ist, den politischen Gegner auszuschalten, Baerbock würde sagen: zu ruinieren.

Nun sind wir also einen großen Schritt weiter bei der Frage, was genau diese “Staatsräson” bedeutet: Sie ist das Synonym für Totalitarismus, made in Germany, 2023.

 Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

Quelle

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