Quelle: www.globallookpress.com © Sha Dati Gedenken für die Opfer in Istanbul, 14.11.2022
Von Dagmar Henn
Wer die Politik der Türkei in den vergangenen Jahren beobachtet hat, den wundert ein Anschlag in der Innenstadt Istanbuls wenig. Schließlich hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in den letzten Jahren sichtbar versucht, die Unabhängigkeit seines Landes zwischen Russland und der NATO zu erhalten. Zuletzt hatte er aber eine stärkere Neigung Richtung Russland gezeigt.
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Das hat mehrere, durchaus nachvollziehbare Gründe. Die Türkei ist ein Land, dessen Bevölkerung immer noch wächst. Der Altersdurchschnitt liegt mit 32,2 Jahren zwar leicht über dem nordafrikanischer Länder, aber weit unter dem deutschen von 47,8 (der nur noch von Japan übertroffen wird). Allein diese Tatsache erzwingt geradezu, das wirtschaftliche Wachstum zu bewahren. Die Wachstumsrate im Jahr 2021 lag bei elf Prozent. Dieses Jahr dürfte sie deutlich darunter liegen, da die Importe noch über den Exporten liegen und die Preise dieser Importe deutlich angezogen haben. Die türkische Zentralbank allerdings hat die Zinsen bisher nicht erhöht, sondern trotz einer Rekordinflation von offiziell 83 Prozent weiter gesenkt.
Hauptziel der Exporte aus der Türkei sind die Länder der EU, Hauptquelle der Importe ist China. Aber in den letzten zwanzig Jahren hat sich die türkische Wirtschaft deutlich diversifiziert, sich hin zu komplexer industrieller Produktion entwickelt – inzwischen werden sogar Autos exportiert – und im Jahr 2020 beinahe eine ausgeglichene Handelsbilanz erreicht.
Dass Erdoğan für russische Angebote, sein Land nicht nur mit günstiger Energie zu versorgen, sondern sogar zum Drehkreuz der Lieferinfrastruktur zu machen, empfänglich ist, ist da nur logisch. Tatsächlich deutet sich bereits an, dass in Ankara die Chancen, die sich aus den begrenzt intelligenten Entscheidungen der EU-Länder im Umgang mit Russland ergeben, deutlich gesehen werden. Ein Beispiel dafür ist das Ansinnen von Turkish Airlines, mehr Start- und Landezeiten auf europäischen Flughäfen zu erhalten. Man könnte sagen, die Türkei begibt sich schon einmal in die Startposition, um möglichst große Teile der Märkte, die der europäischen Industrie aufgrund der hohen Energiekosten wegbrechen, übernehmen zu können. Erdoğan dürfte mit Schadenfreude zur Kenntnis genommen haben, dass sich die Tatsache, jahrzehntelang vergeblich auf der Schwelle der EU warten zu müssen, plötzlich von einem Nachteil in einen Vorteil verwandelt hat – auch in Hinsicht auf die Entwicklung des Gasfeldes vor der türkischen Küste. Die Zinspolitik deutet darauf hin, dass auf den europäischen Abstieg spekuliert wird. Schließlich ist der Zeitraum, der durchgehalten werden muss, begrenzt.
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Diese wirtschaftlichen Daten zeigen, dass den Interessen der Türkei am besten gedient wäre, wenn die Schaukelpolitik zwischen Ost und West so lange wie möglich beibehalten wird. Letztlich sollte die Entscheidung in Richtung Osten fallen, da ohne den Joker günstiger Energie alle Optionen, die sich aus den europäischen Fehlern ergeben, verloren gehen. Es ist somit allen Beteiligten weitgehend klar, dass das NATO-Mitglied Türkei im Moment die Möglichkeiten nutzt, den Beitritt Schwedens und Finnlands zu verzögern, die eigene Mitgliedschaft allerdings bereits mit einem Verfallsdatum versehen ist.
Das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ist spätestens seit dem Putschversuch gegen Erdoğan im Jahr 2016 nicht wirklich rosig. Damals war es eine Warnung aus Russland, die den Sturz des türkischen Präsidenten durch das eigene Militär verhinderte. Inzwischen dürften die Zugriffsmöglichkeiten der USA auf das türkische Militär deutlich zurückgegangen sein.
Die PKK wiederum, die – zumindest im Moment – der Ausführung dieses Terroranschlags beschuldigt wird, hat sich in Syrien erkennbar mit den USA verbündet, gegen die syrische Regierung. Die augenblickliche Verdächtige ist syrische Staatsbürgerin und soll nach Angaben eines türkischen Senders gestanden haben, den Auftrag zu diesem Anschlag in Kobane erhalten zu haben. Die PKK hat in der Vergangenheit zwar mehrfach zu terroristischen Methoden gegriffen, sich aber in der Regel an Ziele im Sicherheitsapparat gehalten. Allerdings wäre es durchaus vorstellbar, dass die Frau nur in dem Glauben gehandelt hat, von der kurdischen Organisation beauftragt worden zu sein: Der Preis einer Zusammenarbeit mit den USA ist immer auch, dass deren eigene Agenten allgegenwärtig sind. Warum sollte nicht jemand vortäuschen, im Namen der PKK zu handeln, der es tatsächlich im Auftrag US-amerikanischer Dienste tut?
Der türkische Innenminister Süleyman Soylu scheint jedenfalls genau dieser Ansicht zu sein.
“Wir wissen, wo der Angriff auf uns geplant wurde. Wir haben die Nachricht, die uns geschickt wurde, erhalten und wir wissen, welcher Art diese Nachricht ist. Wir akzeptieren die Beileidsbekundungen der US-Botschaft nicht … hätten wir den Angreifer nicht gefasst, er wäre nach Griechenland geflohen.”
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CNN Türkei zitierte noch weitere Teile dieser Aussage schriftlich. Schon allein, dass ein türkischer Innenminister es ablehnt, die PKK zu beschuldigen, ist extrem auffällig, selbst wenn das Muster des Anschlags nicht zu ihr passt. Soylu berichtete, dass es einen Auftrag seitens der Organisatoren des Anschlags gegeben habe, die Ausführende zu beseitigen. Türkische Sicherheitsorgane hätten diesen Auftrag mitgehört und dessen Ausführung verhindert. Außerdem sagte er, dass zurzeit noch einige weitere Einsätze liefen.
Objektiv gesehen, hätten die Vereinigten Staaten im Umgang mit der Türkei zwei Möglichkeiten: Die eine wäre, eine Wendung der Türkei in Richtung BRICS zu verhindern. Das dürfte schon Hintergrund des Putschversuchs im Jahr 2016 gewesen sein, aber die Voraussetzungen dafür haben sich mittlerweile deutlich verschlechtert. Welche Vorteile könnten der Türkei dafür versprochen werden? Wie viel Einfluss in die türkische Armee hat den gescheiterten Putsch überstanden?
Die zweite Variante, die von der Voraussetzung ausgeht, dass eine entsprechende Kursänderung ohnehin nicht zu verhindern ist, wäre, die Trennung der Türkei von der NATO zu beschleunigen, um damit zumindest den Beitritt Schwedens und Finnlands zu ermöglichen. Dazu würde auch eine Aktivierung griechisch-türkischer Konflikte beitragen. Die laut Soylu geplante Flucht vom am Anschlag Beteiligten nach Griechenland zielt genau auf diesen Punkt.
Aber auch wenn die griechische Regierung sich augenblicklich besonders NATO-treu gibt, um sich für einen eventuellen Konflikt mit der Türkei, vor allem um das Gasfeld, Rückhalt zu verschaffen, ist sie doch vorsichtiger, als den US-Amerikanern lieb sein kann. Der geplante Verkauf des Hafens von Alexandroupolis, für den es drei US-amerikanische und einen mit Russland verbundenen Bieter gab, wurde gestoppt, nachdem der russische Bieter nicht mehr im Spiel war.
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Alexandroupolis ist nicht nur der Hafen, über den Waffenlieferungen in die Ukraine auf dem Landweg stattfinden, sondern die Stadt liefert neben dem bulgarischen Burgas den einzigen Punkt, von dem aus nicht nur die Meerenge der Dardanellen, sondern auch noch der Bosporus angegriffen werden könnte.
Dass dieser Verkauf jetzt nicht stattfindet, verringert die Chancen, diesen Hafen dauerhaft zu einem NATO-Stützpunkt zu machen, deutlich. Übrigens war Alexandroupolis einer der griechischen Häfen, in denen sich Hafenarbeiter weigerten, Waffen für die Ukraine zu entladen. Dieser Protest war zwar nicht von Dauer, deutete aber an, dass die Verhältnisse im Dreieck Griechenland-Russland-Türkei komplexer sind, als sie auf den ersten Blick aussehen. Dabei darf man nie vergessen, dass beide Länder Opfer der von den USA initiierten Militärputsche waren.
Der Anschlag in Istanbul zielt letztlich auf den türkischen Tourismussektor und sollte als Ankündigung gelesen werden, ökonomischen Schaden zuzufügen. Die Liste der Herkunftsländer der Touristen in der Türkei wird nach wie vor von Russen angeführt, vor den Deutschen. Und vor dem Corona-Einbruch lag der Beitrag des Tourismus zum Bruttoinlandsprodukt bei elf Prozent. Darum gibt es auch in diesem Bereich ausgeprägte Bemühungen der Türkei, die russischen Touristen trotz der westlichen Sanktionen nicht zu verlieren.
Der Tourismus und die im Jahr 2020 eröffnete TurkStream-Pipeline sind die zwei Punkte, an denen die ökonomischen Vorteile, die die Türkei aus der augenblicklichen Schaukelposition zieht, angreifbar sind. Erst Mitte Oktober hatte der russische Präsident Wladimir Putin Erdoğan mitgeteilt, dass ein Anschlag gegen TurkStream auf russischem Territorium verhindert worden sei.
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Der Terrorakt in Istanbul könnte andeuten, dass die USA zu dem Schluss gekommen sind, die Türkei nicht halten zu können, und nun auf Destabilisierung setzen. Dann werden auf diesen Anschlag noch weitere folgen. Trotz der deutlichen Aussagen heute wird die Türkei ihren Schaukelkurs fortsetzen, solange es möglich ist. Das dürfte sogar im russischen Interesse sein, so widersprüchlich das auf den ersten Blick wirkt. Die Türkei ist einer der Pfade, auf dem nach wie vor Kontakte in den Westen gehalten werden, die schon allein wegen des hohen Anteils türkischer Migranten in den EU-Ländern nie völlig abbrechen können.
In den vergangenen Monaten ermöglichte das der Türkei, sich gleich mehrfach als Vermittler zu positionieren: das erste Mal bei den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine im März, die dann der britische Premier Boris Johnson zunichtemachte, das zweite Mal bei jenen um den Getreidekorridor. Auch auf diesen Gewinn an diplomatischem Status wird die Türkei nicht voreilig verzichten wollen.
Das Land, um das die heftigste Auseinandersetzung geführt werden wird, ist ohnehin nicht die Türkei, sondern Saudi-Arabien. Dort soll man ebenfalls einen Mitgliedsantrag bei BRICS erwägen. Auch eine Reise des chinesischen Präsidenten Xi Jinping soll geplant sein, was vermutlich zutrifft, obwohl bereits mehrere angenommene Termine verstrichen sind. Eine BRICS-Mitgliedschaft Saudi-Arabiens wäre für die USA eine ernste Bedrohung, da das gesamte Petrodollar-System darauf beruht, dass das saudische Öl in US-Dollar gehandelt wird. Wäre Saudi-Arabien Teil von BRICS und würde die alternative Reservewährung, die dort mindestens seit dem Jahr 2014 geplant wird, unter Einbeziehung Saudi-Arabiens ins Leben gerufen, wäre der Dollar am Ende und damit auch die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, das eigene, aus der endlosen Kriegsführung entstandene Defizit anderen aufzubürden.
Die wirklich große Wende steht also noch an, auch wenn sie sich bereits angekündigt hat. Ist sie erst einmal vollzogen, wird sich die Gefahr, die von den Vereinigten Staaten ausgeht, deutlich verringern. Bis dahin besteht allerdings auch die Möglichkeit, dass sie an der Türkei noch einmal vorführen wollen, was sie einem Land alles antun können, das nicht bereit ist, ihrer Linie zu folgen. Befürchtungen in diese Richtung deutete Soylu an. “Es gibt zu viele Spielfiguren auf der Welt. Gott stehe unserem Land bei.”
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