Japans Abhängigkeit von den USA: Warum die Entschuldigung für Hiroshima und Nagasaki ausbleibt
“Der japanische Premierminister Shigeru Ishiba flirtet mit nationalistischen Kräften. Diese nationalistische Flanke findet, dass Japan zu viel Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg trägt und Tokio seine Autorität auf der internationalen Bühne stärken sollte”, erklärt Wladimir Nelidow, Dozent der Orientabteilung des Moskauer Staatsinstituts für internationale Beziehungen (MGIMO).
“Der grundlegende Aspekt ist aber, dass selbst nationalistische Kräfte – wenn wir nicht von den völlig marginalisierten sprechen – immer noch ein Bündnis mit den USA als optimal für Japan betrachten”, so der Experte weiter. “Mit seiner Äußerung stellt Ishiba den proamerikanischen Kurs des Landes nicht infrage. Daher sind seine Worte, die Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 sei von den USA durchgeführt worden, nur populistische Rhetorik, die keinen Rückschluss auf antiamerikanische Tendenzen zulässt.”
Eine derartige Äußerung geht nicht über die “standardmäßigen politischen Schwankungen in der japanischen Politik” hinaus. “Es gibt eine große Meinungsvielfalt im japanischen politischen Establishment über die Bewertung des Zweiten Weltkriegs. Aber in den für die außenpolitische Strategie Japans wirklich wichtigen Fragen gibt es de facto einen Konsens”, erinnert der Orientalist.
Dass viele japanische Führer es vorzogen, die Beteiligung der USA an den Atombombenabwürfen nicht zu erwähnen, hängt mit der japanischen Einstellung zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs zusammen: “Selbst in Schulbüchern werden viele Fakten im Passiv beschrieben”, bemerkt er:
“Dies ist eine ziemlich komfortable Position für die Japaner selbst. Eine solche Sichtweise entlastet sie von der Verantwortung für die Kriegsauslösung im Pazifik. Und dementsprechend entlasten sie auch die Amerikaner von ihrer Verantwortung, was im Hinblick auf die Alliiertenbeziehungen zweckmäßig ist.”
Bis zuletzt gebe es im Land eine von der obersten Staatsführung entwickelte Politik, die vorschlage, die Rolle der USA bei den Atombombenabwürfen nicht zu thematisieren, da Tokio Washington damals den Krieg erklärt und eine unnötig harte Strafe erlitten habe, erinnert sich Oleg Kasakow, ein leitender Wissenschaftler am Zentrum für Japanstudien des Instituts für China und modernes Asien der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Der Orientalist schließt sich den Prognosen an, dass Ishiba weiterhin aktiv mit den USA zusammenarbeiten wird, und “seine Erklärung bestreitet nicht den Haupttrend, konstruktive Beziehungen zu Washington aufzubauen”:
“Allerdings geht der neue Premierminister von einigen Faktoren aus, die ihn dazu zwingen, die gegenwärtige Situation Japans konkreter und härter zu positionieren. Zunächst einmal handelt es sich um eine reale Bedrohung durch China und die Demokratische Volksrepublik Korea, die die Atomwaffenfrage im Kontext eines Krieges mit Südkorea thematisiert.”
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Darüber hinaus diversifiziert Japan die mit der Verteidigung verbundenen Risiken, bezieht neben den USA auch andere Länder in diese Problematik ein und diskutiert über die Schaffung einer “asiatischen NATO”. Nach Ansicht des Experten deutet Ishibas Aussage darauf hin, dass sich Japan an die Geschichte erinnert und sich daher mit allen Mitteln verteidigen wird und sich “als ein Land positioniert, das sich nicht kränken lassen wird”. Kasakow weiter:
“Die Lage verschärft sich, und Japan muss sich in der internationalen Arena deutlicher positionieren. Ishibas Erklärung steht im Zusammenhang mit dem sich weltweit entfaltenden Informationskrieg und der Behauptung, Japan verfolge eine rein von Washington abhängige Politik. Eine solche Kritik zwingt die japanische Seite, sich deutlicher als ein Land zu präsentieren, das zur Verteidigung seiner nationalen Interessen bereit ist.”
Außerdem etablierte sich Ishiba als unabhängiger Politiker. Er hatte in der Vergangenheit Konflikte wegen Disziplinproblemen in der Liberaldemokratischen Partei. “Möglicherweise beabsichtigt Ishiba, die politische Stabilität und die Traditionen zu erschüttern, um erneut die Unabhängigkeit Japans zu betonen, das seine Verteidigungsindustrie entwickeln kann. Vielleicht beginnt in Japan eine Periode, in der sich die Ansichten über früher bestehende Tabus und Verbote ändern”, so der Experte.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 12. Oktober 2024 zuerst auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.
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