Meinung
Demos “gegen rechts”: Das vorerst letzte Aufgebot
Anhänger der Regierungsparteien dagegen sehen die AfD und die “Rechten” allgemein als die Ursache des Zerfalls, auch wenn sie immer weniger darlegen können, was genau “rechts” ist. Noch schwerer fällt es ihnen, den Unterschied zu ihrem eigenen Denken deutlich zu machen.
Der Verfall der Diskussionskultur und des politischen Bewusstseins ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass man, ohne die Inhalte einer Aussage zu kennen, schon weiß, dass sie “rechts” sind. Man urteilt nach Signalwörtern, die man mit “rechts” oder “links” in Verbindung bringen kann. Ob die Vermutung zutreffend ist, wird an der Wirklichkeit kaum noch überprüft. Das schafft nicht nur politische Verblödung, sondern führt auch zur Verödung von Einschätzungsvermögen und Realitätssinn.
Gesellschaftlichen Zusammenhalt sucht dieser Teil der Gesellschaft in der Mobilisierung gegen “Rechts”, was immer das sein mag. Sie gipfelt in den modernen Veitstänzen der “demokratischen Mitte”, die überall in der Republik Zulauf haben. Es pilgern selbst jene zu Zehntausenden zu den Ritualen der gesellschaftlichen Abbitte, die bisher nie eine Demonstration besucht haben.
Druck auf die “Rechten” möchte man damit machen. Insbesondere AfD-Wähler sollen erkennen, dass sie auf dem Holzweg seien, und sich bekehren lassen, damit die Gesellschaft wieder ins Lot kommt. Doch wohin sollen sie zurück? Wo ist sie geblieben, die gesellschaftliche Kuschelecke, in der man sich in einem unbestimmten Gefühl von Zusammenhalt und Geborgenheit aneinanderschmiegte?
Die meisten der Pilger für das gesellschaftliche Heil werden vermutlich nicht klar benennen können, was an einer Ansicht rechts oder links ist. Sie sind verängstigt und wollen eigentlich nur jene Sicherheit zurück, die vor einem Jahrzehnt noch so selbstverständlich schien. Das ist verständlich. Die Realität ist jedoch, dass weder Demonstrationen noch die Einteilung der Welt in “Rechts” und “Links”, in “Gut” und “Böse”, alte Gewissheiten zurückbringen werden.
Interessen als Kompass
Aus dem Labyrinth der gesellschaftlichen Verunsicherung bieten die Begriffe Rechts und Links keinen Ausweg, sie sind Nebelkerzen, Irrlichter, die vom Wesentlichen ablenken. Denn von wo gesehen ist Links links und Rechts rechts? Von der Mitte? Die Mitte von heute ist nicht mehr dort, wo sie sich vor einem Jahrzehnt befand. Wie weit nach links oder rechts ist die Mitte inzwischen von sich selbst abgerückt?
Das eindimensionale Koordinatensystem ist willkürlich und unzuverlässig. Ein objektives “Rechts” oder “Links” gibt es nicht. Die Richtungsangaben können sich jederzeit verschieben, was gerade die wenigen vergangenen Jahre zeigen. Nicht Mitte, Links und Rechts sind die Koordinaten, die uns den Weg erschließen, sondern unsere Interessen. Diese zu erkennen, ist eine der schwierigsten Übungen, denn dazu bedarf es eines klaren politischen Bewusstseins über die eigene Stellung in der Gesellschaft.
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Als welcher Teil der Gesellschaft verstehen wir uns selbst? Betrachten wir uns als Teil der einfachen Leute oder eher als jene, die sich über diese erheben, sie vielleicht als Schlafschafe verachten? Verstehen wir uns als diejenigen, die die materiellen Werte der Gesellschaft erschaffen, oder eher als jene, die sie sich aneignen? Verstehen wir uns als jene, die eine Gesellschaft aufbauen wollen, die für alle gleiche Voraussetzungen bereithält, um das eigene Leben zu meistern? Oder sehen wir uns eher als solche, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind, denen die Interessen, Wünsche und Bedürfnisse der anderen egal sind?
Mit welchem Bewusstsein gehen wir an uns selbst heran und an die Gesellschaft, in der wir leben? Aus dieser Stellung leiten sich unsere Interessen ab. Was brauchen wir für ein menschenwürdiges Leben in gesicherten Verhältnissen und eine gute Zukunft für unsere Kinder? Das gilt es zu formulieren, und da kann es uns egal sein, ob die einen es rechts oder die anderen es links nennen. Entscheidend ist, dass wir die eigenen Interessen nicht mit fremden verwechseln, damit wir auch einen Weg finden, für sie im realen Leben einzutreten.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse .
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